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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Autoren: Christian Thielemann
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Rolf Liebermann als Intendant an der Hamburgischen Staatsoper angetreten hatte. Ihm war der Eklat beim Karajan-Wettbewerb offenbar im Gedächtnis geblieben. Ob ich einige «Tristan»-Vorstellungen übernehmen wollte, in der Skandalinszenierung von Ruth Berghaus? Und ob ich wollte! Ich wusste, dass ich es konnte, Eklat hin oder her – aber ich wusste natürlich auch, dass es ein enormes Wagnis war. Wenn ich in Hamburg scheiterte, würde ich meine Karriere als Wagner-Dirigent begraben können; und die Gefahr, als Debütant mit nur zwei Sitzproben den Karren an die Wand zu fahren, erschien mir ziemlich hoch. Zwei Sitzproben im NDR-Haus am Hamburger Rothenbaum mit dem Opernorchester sollten über mein Schicksal entscheiden.
    Ich weiß gar nicht, was ich gemacht hätte, wenn es schief gegangen wäre. Weiterdirigiert, nur eben keinen Wagner mehr? Eingesehen, dass ich ausgerechnet für den «Tristan», mein Schmerzensstück, noch nicht reif war? Eine Laufbahn bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten eingeschlagen? Ein Flop hätte mich sicher in eine tiefe Krise gestürzt. Dirigieren um des Dirigierens willen hat mich nie interessiert. Ich bin kein Musiker – was mir viele vorwerfen –, der sein Glück in der Vielseitigkeit sucht, von der Alten Musik bis Stockhausen und so weiter. Eher ziehe ich konzentrische Kreise. Ich muss von einem Kern, meinem Kern, ausgehen. Und das bedeutet auch: Ich habe nie an meine Karriere gedacht, sondern immer nur an Wagner. Hätte man mich um vier Uhr morgens geweckt und gefragt: Was willst du dirigieren?, ich hätte Wagner! gerufen, «Tristan»! Insofern habe ich sehr viel auf eine Karte gesetzt, eigentlich alles, obsessiv.
    Wie der Hamburger «Tristan» nun war? Heute möchte ich ihn lieber nicht noch einmal hören. Ehrlich gesagt, kann ich mich auch nur dunkel erinnern. Irgendwie ging es gut, ich fasste trotz aller Nervosität und Hysterie Zutrauen, und am Ende war es ein Erfolg. Danach habe ich die ganze Nacht kein Auge zugetan, so erregt war ich, so erleichtert. Die Bilder der Berghaus-Inszenierung, die berüchtigte Turbine im ersten Akt, der gestrandete Planet im dritten, das habe ich damals gar nicht richtig wahrgenommen. Aber ich sollte noch einmal nach Hamburg zurückkehren, 1993, für eine Wiederaufnahme der Produktion. Berghaus persönlich leitete die szenischen Proben, und das war ein echtes Erweckungserlebnis, gewissermaßen mein Urknall in Sachen Opernregie. Eine Regisseurin, die aus der Musik heraus inszenierte, aus nichts als der Musik heraus. Berghaus hat immer mit der Partitur argumentiert, nie mit irgendwelchen Einfällen oder Zufällen oder dramaturgischen Kopfgespinsten. Von den Regisseuren, mit denen ich bis jetzt zusammengearbeitet habe, konnten das nur Jean-Pierre Ponnelle und Götz Friedrich.

    Liebestod im Ruderboot: «Tristan und Isolde», dritter Akt, in der Inszenierung von Ruth Berghaus 1988 an der Staatsoper Hamburg (links Gabriele Schnaut als Isolde, rechts Hanna Schwarz als Brangäne)
    In Hamburg habe ich gemerkt, wie sehr man im Graben davon abhängt, was auf der Bühne geschieht. Solange die szenische Spannung trägt, ist mir die Bühnenästhetik fast egal und ich kann im «Tristan» Liegestühle dirigieren oder eine Turbine oder den Daedalus-Krater auf dem Mond. Es muss ein alchemistisches Verhältnis zwischen Bühne und Graben herrschen, und das konnte die Berghaus erzeugen. Sie hat immer gesagt, ihr müsst da unten Feuer legen, bei uns oben herrscht Eiszeit. Ich glaube, wir beide waren ein gutes Team – gerade weil die Unterschiede gravierender nicht hätten sein können: die kritische Ossi und der kulinarische Wessi, die überzeugte SED-Parteigängerin und der Unpolitische, die Funktionärin und der Flegel, die Brechtianerin und der Karajan-Schüler … die Liste der Etiketten und Klischees ließe sich fortsetzen. Im Übrigen hätte Ruth Berghaus meine Mutter sein können.
    Die Berghaus hat mich dazu gebracht, nicht nur zu fragen, wie macht Wagner das, sondern auch, warum ? Was bedeutet es, wenn er im dritten Akt «Tristan» die Sonne so flirren lässt, dass man meint, er komponiere die schwarzen Punkte noch mit, die man sieht, wenn man zu lange ins Licht geschaut hat? Was bedeutet es, dass die Liebe, jede Liebe, eine Unmöglichkeit darstellt, eine grandiose Überforderung, die pure Anarchie? Dass Tristan sterben muss, damit die Utopie lebt? In Heiner Müllers Bayreuther «Tristan»-Inszenierung von 1994 lässt der Bühnenbildner Erich
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