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Endstation Wirklichkeit

Endstation Wirklichkeit

Titel: Endstation Wirklichkeit
Autoren: Stephan Klemann
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    Z ornig zerrte der Wind an seinen Sachen, versuchte ihm das Wenige, das er trug, erbarmungslos vom Leib zu reißen. Er fror jämmerlich, und dennoch stand er regungslos da. Der kalte Wind trieb ihm die Tränen in die Augen, die er deswegen immer wieder schloss. Von Weitem vernahm er den anschwellenden Lärm des morgendlichen Verkehrs der Stadt, und er glaubte, gar nicht so weit entfernt, den vertrauten Gesang eines Vogels zu hören.
    Bereits seit einer guten Stunde stand er hier auf der Brücke über der Bahnstrecke und wartete auf den 6-Uhr-Zug. Das Gezwitscher des Vogels erinnerte ihn jäh an die Vergangenheit. Es beschwor eine Zeit herauf, die gar nicht so lange vorbei war. Wie bereits in den zurückliegenden Tagen sehnte er sich auch an diesem Morgen nach diesen Augenblicken. All das, was er jetzt empfand und nie für möglich gehalten hatte, hatte er damals noch nicht gekannt. Früher hatte er von seinen heutigen Gefühlen, den Schmerzen und Selbstvorwürfen, nichts ahnen können. Sie waren fremd für ihn gewesen.
    Hier und jetzt wünschte er sich die ländliche Geborgenheit und die heile Welt seiner Vergangenheit zurück, in der es nur Unbeschwertheit, Glück und Liebe gegeben hatte.
    Still stand er im kalten Wind und wartete nicht nur auf den Zug, sondern auch darauf, Antworten zu finden. Etwas, das das Durcheinander seiner Gefühle ordnen, seine seelischen Schmerzen lindern konnte. Der trällernde Vogel war der Auslöser gewesen, die Erinnerung an den Anfang, wo er das Zwitschern so oft gehört und immer mit einer Empfindung des Glückes verbunden hatte. Diese Unbeschwertheit zog ihn zurück in eine Zeit der Unschuld, weg von der kaum zu ertragenden Realität des Heute, in der er verzweifelte und sein Sein so nutzlos erschien.
     
    ***
     
    David brummte leise und genussvoll vor sich hin und brachte damit seine Zufriedenheit über die Liebkosungen, die ihm zuteilwurden, zum Ausdruck. Sanft strich Alan mit dem Grashalm über seine Wangenknochen, umrundete sein Kinn und glitt auf der anderen Seite wieder hinauf zur Stirn.
    David lag still da und hatte die Augen geschlossen. Er spürte lediglich die warme Nachmittagssonne und den Grashalm auf seiner Haut. Und er genoss die Tatsache, dass er hier mit Alan war.
    Die Luft an diesem ersten Wochenende im Juni war warm, und David vernahm das Rauschen der Blätter in den umstehenden Bäumen wie aus der Ferne. Irgendwo im Wald sang ein Vogel unaufhaltsam vor sich hin, und verträumt versuchte er eine Melodie darin zu erkennen. Aber es gab keine. Es war lediglich eine angenehme Untermalung der Situation, der Zufriedenheit, die er hier mit Alan teilte.
    Vorsichtig öffnete David ein Auge und blinzelte seinem Freund mit einem Lächeln entgegen, der ebenfalls schmunzelte. Bereits seit Stunden lagen sie am Ufer des Sees und genossen das warme Wetter und die Einsamkeit der geschützten Bucht.
    Es war ihre Bucht.
    Jedenfalls war das ihre feste Überzeugung. Im vergangenen Jahr hatten sie sich am Isabelle Lake kennengelernt und waren seither oft hier gewesen. Hier waren sie ungestört, allein mit sich und ihrer Liebe, und hier konnten sie sich die Zärtlichkeit geben, die auszutauschen an jedem anderen Ort in dieser ländlichen Kleinbürgerlichkeit so gut wie unmöglich war.
    Sie lebten in Glennville, einem fast dreihundert Seelen zählenden Nest, das etwa achtzehn Meilen vom See entfernt lag, der ihnen diese Abgeschiedenheit für zärtliche Stunden bot. Die fast ganzjährige Hitze, die wie eine Glocke über dem Land lastete, und die dem bekannten Klischee entsprechende Jeder-kennt-jeden-Wirklichkeit machten das Dorf und sein Umland zu einem für die Jugend in besonderem Maße unattraktiven Ort. Mit der knapp einhundertzwanzig Meilen entfernten Metropole Los Angeles verband sie außer einer Buslinie, die zweimal die Woche zwischen beiden Orten pendelte, nur Träumereien.
    Es waren jene Träume und Sehnsüchte, die fast von jedem der wenigen Jugendlichen von Glennville verspürt wurden. Sie alle konnten der Idylle der provinziellen Abgeschiedenheit auf dem Land keinen besonderen Reiz abgewinnen. Stattdessen waren sie von den Fantasien über die Möglichkeiten des Lebens in einer Großstadt wie Los Angeles gefesselt.
    So wie David. Auch er träumte diesen Traum, war besessen von der Vorstellung über das Leben in der Stadt. Er wusste genau, es war nicht die Frage ob , sondern vielmehr wann er endlich die Trägheit und Beschränktheit des Dorfes hinter sich lassen und das
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