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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Autoren: Christian Thielemann
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einhellig, sowohl Karajan als auch Ruzicka standen, wie sich später herausstellte, auf meiner Seite.
    Wie wird man Dirigent? Die Frage ist berechtigt, schließlich ist der Dirigent der einzige Musiker, der keine eigenen Töne erzeugt. Er ist und bleibt ein «Luftzerteiler», wie mein Freund, der Komponist Hans Werner Henze, so schön sagt. Das heißt, der Dirigent braucht ein Orchester, und das steht ihm nicht an jeder Ecke zur Verfügung. Wie also üben, wie eine Schlagtechnik entwickeln, wie Erfahrung sammeln? Karajans Antwort mir gegenüber lautete damals: Machen Sie Abitur und gehen Sie in die Praxis. Er sagte das mit einer solchen Autorität, ja mit dem ganzen Gewicht seiner Biographie, dass ich sofort verstand. Statt Studium also die Ochsentour: Korrepetitor, Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung, Assistenzen bei namhaften Dirigenten, zweiter Kapellmeister, erster Kapellmeister, Generalmusikdirektor in der Provinz oder an einem mittleren Haus, Generalmusikdirektor an einem großen Haus. Und Gastdirigate. Und Plattenaufnahmen, so sich die Gelegenheit bietet. Das Ganze möglichst bis 40. Sonst wird es nicht nur mit den ersten Positionen schwierig (man ist schlicht nicht mehr so attraktiv für den Markt), sondern auch mit der Aneignung des Repertoires. Wer als Seiteneinsteiger zum Dirigieren kommt, wird kaum nach zwei Jahren im Geschäft einen «Lohengrin» oder «Tristan» hinzaubern können, ohne die nötige Erfahrung, ohne gewachsenes Handwerk. Andererseits: Auch eine sehr frühe Dirigentenkarriere, dieser Sprung ins eiskalte Wasser, nur weil jemand ein irrsinniges Talent hat oder wie verrückt gepuscht wird, kann Unglück bringen.
    Kurz und gut: Ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter der Ochsentour und würde sie auch heute noch jedem jungen Kollegen raten. Meine Stationen waren Berlin, Gelsenkirchen, Karlsruhe, Hannover, Düsseldorf und Nürnberg. Ich musste sehr viel vom Blatt spielen und setzte meine ersten Bühnenmusiken in den Sand, ich lernte, mit Chören zu atmen, und musste Operettenvorstellungen ohne jede Probe dirigieren. Vor allem aber fraß ich mir ein dickes Repertoire an, eine Werkkenntnis, von der ich bis heute zehre: Allein an der Deutschen Oper Berlin hatte ich es in den drei Jahren meiner Korrepetitorenzeit mit 70 Stücken zu tun. Und was ich mir von Kapellmeistern wie Horst Stein oder Heinrich Hollreiser alles abgucken konnte! Stein mit seinen kurzen Ärmchen und dem kurzen Taktstock – ich kenne niemanden, der so unprätentiös, so gestochen scharf geschlagen hat wie er. Hollreiser hingegen benutzte einen langen Stock, seine Einsätze waren Peitschenhiebe, man hörte es regelrecht knallen. Beide habe ich ungeheuer geschätzt. Wie ein Luchs saß ich in den Proben, damit ich nur ja nichts verpasste.
    Irgendwann, mehr oder weniger schnell, kriegt man dann eine Ahnung von diesem Beruf. Aber es dauert, und man muss Geduld haben. Auch mit sich selbst, mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, zumal wenn man sich, wie in meinem Fall, nicht gar so leicht in ein Kollektiv oder ein Ensemble einfügt. Ich fürchte, der Anfänger Thielemann hatte ein ziemlich loses Mundwerk und musste seine Unsicherheit oft durch Frechheit überspielen. Außerdem sitzt man als Assistent natürlich in so mancher Probe und denkt, na, das kann ich besser! Und dann steht man eines Tages vor dem ersten «Parsifal» seines Lebens (bei mir war das 1998 an der Deutschen Oper Berlin, die Regie hatte Götz Friedrich) und stellt fest, wie schwer das ist und dass die Musik, die man so liebt, sich in eine zähe Soße verwandelt oder zerbröselt – gerade weil man sie so liebt und weil man glaubt, Wagners «Bühnenweihfestspiel» müsse weihevoll sein und sehr, sehr langsam. Erst beim Musizieren in Bayreuth habe ich begriffen, was für ein Trugschluss das ist.
    Dirigieren kann man an sich nicht lernen. Der einzige Unterricht, den ich je genossen habe, fand wie gesagt bei Hans Hilsdorf statt, dem Direktor der Berliner Singakademie. Einen Vierertakt schlägt man so, sagte Hilsdorf, ein Dreiertakt geht so, das ist eine Fermate, das ist ein Fünfer, das ein Sechser – und das wär’s im Grunde. Die Hände müssten möglichst unabhängig voneinander sein, das erklärte er mir auch, die rechte sei mehr für den Takt zuständig und die linke für alles andere. Warum? Weil es zum Beispiel vorkommt, dass man mit der Linken einen Sänger festhalten muss, der gerade die Orientierung verloren hat, und ihm solange anzeigt
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