Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Autoren: Christian Thielemann
Vom Netzwerk:
das einmal in ihrem Tagebuch, als sie zufällig hörte, wie ich die Gute-Nacht-Lieder, die sie mir gerade vorgesungen hatte, vor dem Einschlafen noch einmal nachsang – ohne Text natürlich. Da war ich ungefähr ein Jahr alt. «Scheint musikalisch zu sein», schreibt meine Mutter vorsichtig.
    Die Musikalität liegt bei uns in der Familie. Mein Vater hatte das absolute Gehör (das er mir vererbte), und schon von seinem Vater, meinem Großvater, der als Konditormeister von Leipzig nach Berlin ging und sich dort sehr schnell sehr gut stand, gibt es viele Geschichten, die mit Musik zu tun haben. Im Ersten Weltkrieg wurde er als Kulissenschieber in die Hofoper Unter den Linden abkommandiert, damals war Richard Strauss dort Intendant, und während sich die anderen Bühnenarbeiter nach getaner Arbeit verdrückten, blieb mein Großvater in der Gasse stehen, um zuzuhören, und war ganz berauscht. «Die Meistersinger» zählten zu seinen Lieblingsopern – auch das hat sich über meinen Vater auf mich übertragen. Allerdings erst nach einer längeren Inkubationszeit. Anfangs, mit 12 oder 13 Jahren, fand ich den dritten Akt sterbenslangweilig: Dieses doofe Festwiesengedöns, das olle Meistergeschwätz!, so dachte ich. Mein Vater war entrüstet. Leider hat er meine ganz besondere Liebe zu Wagners einziger komischer Oper dann nicht mehr miterlebt, er starb, als ich 26 war. An diesem Abend habe ich in Düsseldorf Smetanas «Verkaufte Braut» dirigiert. Das Klavier, an dem mein Vater Klavierspielen gelernt hat, ein altes Blüthner mit einer bewegten Geschichte, besitze ich noch heute.
    Meine Begabung wurde glücklicherweise früh entdeckt. Ich bekam Klavier- und Geigenunterricht, und wir gingen viel ins Konzert. Meine Eltern hatten bei den Berliner Philharmonikern ein Abonnement, und ich weiß noch, wie die Sitznachbarn mich mitleidig tätschelten: Der arme Junge, muss er wieder so geduldig sein! Ich glaube, ich war das einzige Kind weit und breit, und es hat niemand verstanden, wie ein Fünfjähriger mit roten Backen auf der Stuhlkante sitzen konnte, während vorne Beethoven gespielt wurde. Ich wollte das aber. Ich wollte nicht zuhause bei meinem ostpreußischen Kindermädchen bleiben, ich wollte Orchestermusik hören, das Schillern der Farben, diese Wogen und Wellen, in denen man sich zugleich verlieren und wiederfinden konnte. Den Dirigenten übrigens, wer immer es war, fand ich eine eher lachhafte Figur: Was soll das, habe ich mich gefragt, wieso ballt der die Fäuste, wieso führt der einen solchen Veitstanz auf? Erst bei Karajan bekam ich langsam das Gefühl, dass Dirigieren auch organisch aussehen kann, ja sogar richtig schön.
    Ich habe in der Musik das Überbordende von Anfang an mehr geliebt als das Schmallippige und Sparsame. Für mich musste es die große Besetzung sein, der volle Klang – von den Fortissimi im «Heldenleben» von Richard Strauss kann ich bis heute nicht genug bekommen. So wie mich von Anfang an die langsamen Sätze fasziniert haben, nicht die schnellen, schnurrigen Sachen. Schnell ist leicht, dachte ich, das kann jeder. Aber langsam ist schwer, das musst du füllen mit deinen Ideen und Gedanken, mit Farben und Nuancen. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis ich von der Geige auf die Bratsche umstieg, des wärmeren, samtigeren, dunkleren Timbres wegen – und vom Klavier auf die Orgel kam. An Heiligabend sind wir meist in die Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche ins Hansaviertel gefahren, zur Orgelmesse, da hat Berthold Schwarz den dritten Teil der «Clavierübung» von Johann Sebastian Bach gespielt, mit dem herrlichen Es-Dur-Präludium und der Tripelfuge, Vater, Sohn, Heiliger Geist. Wenn die Orgel so richtig dröhnte, war ich selig, dann war Weihnachten. Bach hatte für mich einen Reichtum, eine innere Monumentalität, die mich ungeheuer anzog.
    Mit elf versuchte ich, mir heimlich das Orgelspielen beizubringen. Das heißt, der Küster schloss mir die Johanneskirche in Schlachtensee auf, und ich übte dort Choralvorspiele – was natürlich nicht funktionierte. Die verschiedenen Manuale, die Pedale, die Koordination von Händen und Füßen, all das klappte nicht. Was ich aber merkte, war, dass man die Finger völlig anders übersetzen musste als am Klavier. Und das hat mich letztlich verraten. Meine Klavierlehrerin, die Frau des Philharmoniker-Flötisten Fritz Demmler, wurde mit meiner Technik immer unzufriedener und rief eines Tages aus heiterem Himmel: «Du spielst doch nicht etwa
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher