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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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I
    D er Schnee fällt in dichten Flocken, ihr Rücken ist schon verschwunden. Er steht in der Tür und betrachtet die Fußspuren, drei Stufen hinunter, quer nach links über die Straße und weg.
    Die Schneeflocken stieben durch die Türöffnung, wirbeln auf sein Hemd und das Fensterbrett dahinter, er rührt sich nicht. In der Luft ein schwacher Geruch nach feuchter Erde, obwohl es doch unmöglich ist. Die schmale gepflasterte Straße in der alten Stadtmitte ist von einer undurchdringlichen Asphaltdecke umschlossen. Es hat den ganzen Tag geschneit, und auf der Straße liegt der Schnee ein gutes Stück höher als der Bordstein, den man in der einen Ausfahrt, die gefegt ist, gerade noch erahnt.
    Der Teppich vor seinen Schuhen ist nass, und rechts an der Hauswand klettert ein kleiner Schneewall heimlich immer höher. Trotzdem zögert er noch etwas. Sie hatte Stiefel mit dicken Gummisohlen an. Er kann die rhombenförmigen Rillen in den Fußabdrücken sehen, die ihm am nächsten sind. Leise rieselt der Schnee auf die Abdrücke, seine Brille beschlägt, und seine Hand auf der Klinke wird weiß vor Kälte. Er schiebt die Tür zu. Aber ehe sie zufällt, zieht er sie wieder auf. Auf der Straße ist ihre Spur undeutlicher, als ob sie den Fuß nachzöge oder einfach nicht imstande wäre, die Stiefel aus dem Schnee zu ziehen, und von einem Abdruck zum nächsten verläuft eine flache Rinne.
    Die andern sind längst gegangen. Langsam schließt er die Tür, dreht den Schlüssel um und geht in sein Büro zurück. Setzt sich an den Schreibtisch und wuchtet ein dickes Manuskript vor sich hin. Das Manuskript ist feucht. Die ersten Seiten kleben zusammen, und oben rechts ist es so nass, dass man durch die Vorderseite den verwischten Text lesen kann. Die Ecken biegen sich nach oben, und unter dem Titel ist ein Rotweinfleck, aber er weiß nicht, ob er nicht immer schon da gewesen ist.
    Er nimmt die Brille ab, vergräbt das Gesicht in den Händen, schließt die Augen. Sie hätte es nicht zurückbringen müssen. Heutzutage kann man einfach ein neues ausdrucken.
     
    Er bleibt eine Weile still sitzen. Richtet sich plötzlich auf und schlägt mit der Handfläche auf das Manuskript.
    »Was bildet die sich eigentlich ein?«

II
    D u hast die Wahl«, hatte sie gesagt, ehe sie aufstand und ging.
    Selbstverständlich hat er die Wahl. Wer sonst?
    Er schaut auf das Manuskript. Steht abrupt auf und geht zu dem Stummen Diener, auf dem seine Jacke hängt, nimmt sie ab und zieht sie an. Der zweite Korrekturdurchlauf ist eben gemacht. Er schüttelt sich, das Hemd, wo es vom Jackett an die Haut gedrückt wird, ist kalt und klamm. Die Herstellung muss es morgen zum Setzer schicken, wenn das Buch planmäßig am sechsten Mai erscheinen soll.
    Es wurde von einem jüngeren Mann verfasst, der zu den meistverkauften Autoren im Lande gehört. Sein fünfter Roman. Die Vertriebsabteilung war dafür gerüstet.
    Er geht zum Fenster, schiebt die Gardine zur Seite. Der Schnee flutet herab und hüllt alles in ein fieberndes Weiß. Es ist der absolut beste Roman des Autors bislang. Über Themen, die er nie zuvor geschildert, mit einer Einsicht, die er nie zuvor offenbart hat. Er wird sich hunderttausendfach verkaufen.
    Er geht zurück und setzt sich wieder. Weltweit vielleicht millionenfach.
     
    »Es ist meine Geschichte«, sagte sie leise.
    Er hatte ihr nur das Manuskript gegeben, weil sie dort gewesen war: in Morenzao während des Friedensprozesses. Dachte, es könne sie interessieren. Es war bereits fünf, als sie in sein Büro kam. Sie legte das durchweichte Manuskript auf seinen Schreibtisch.
    »Es ist meine Geschichte«, sagte sie leise.
    Zuerst hatte er nicht geantwortet. Sie hatten dagesessen und sich gegenseitig angeguckt. Er hätte ihr das nie geben sollen. Er hatte es nicht nur gemacht, weil sie dort gewesen war. Konnte jetzt auch egal sein. Derlei Probleme gab es viel zu viele.
    »Eine Geschichte kann man nicht besitzen«, sagte er schließlich.
    »Gibt es keine Geschichten, die so persönlich sind, dass andere sie nicht weitererzählen dürfen?«
    Ihre Augen sind durchsichtig. Seltsam, dass er es noch nie bemerkt hatte.
    »Das hier kannst du nicht erlebt haben …« Er sagte es freundlich, nicht wie eine Frage, sie konnte es bestätigen, und die Sache war damit erledigt, oder sie konnte ihm widersprechen, indem sie ihm Details gab, die nur, wie er wusste, in ihrem eigenen Kopf stimmig wären. Wie immer.
    Man kann direkt in sie hineinsehen, dachte er. Sie
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