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Einsam, zweisam, dreisam

Einsam, zweisam, dreisam

Titel: Einsam, zweisam, dreisam
Autoren: Thommie Bayer
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Erfahrenheit dieser Hände, die erst so zielsicher in eine Richtung toben und dann plötzlich innehalten, als genüge auch der Entwurf einer Gebärde. Wie der Ein-Uhr-Schatten einer Resignation sieht das aus, wenn sie sich aus Bewegungen zurückzieht und die Oberseiten ihrer Finger an die Wangen legt, als erhoffe sie dort Kühlung. Aber die leicht konkav gewölbten Seiten ihres Gesichts machen eher den Eindruck, als habe es erst kürzlich in ihrem Kopf gebrannt. Auch die Ränder der Augen sehen aus, als hätte die Tränenfeuerwehr was zu löschen gehabt.
    Sig ist nicht nur in die Gebärden verliebt. Nahezu fassungslos spürt er in den Fingerspitzen, wie es wäre, ihr Kinn, weich wie das eines Kätzchens, zu berühren. Nahezu fassungslos sieht er verschiedene Gesichter über sie flackern und verschwinden, bevor er sie noch recht erkennen kann, und nahezu fassungslos spürt er, wie sein Magen nach unten fällt, weil der Zug bremst und eine blecherne Stimme sagt: «Freiburg Hauptbahnhof, Freiburg Hauptbahnhof. Der eingefahrene Eilzug fährt weiter nach Basel Schweizer Bahnhof.»
    Hastig greift er nach der Zeichenmappe, dem Matchsack und seiner Jacke. An allerlei Ecken und Kanten anstoßend, rennt er hinter ihr her zur Tür, wo er sich schon durch einsteigende Reisende durchquetschen muß.
    Bei dem Dextro-Energen-Automaten auf dem Bahnsteig zieht sie an der Schublade und fährt mit dem Finger hinter das Geldrückgabe-Kläppchen. Wie ein kleiner Streuner. Fünfzig Meter weiter dasselbe beim Zigarettenautomaten in der Halle. In dem Augenblick, da sie sich ihm zuwendet, um sich zu verabschieden, sagt er:
    «Ich würde gern noch mit dir zusammensein.»
    «Das geht mir zu schnell», sagt sie.
    «Würdest du mitmachen, wenn’s langsamer wäre?»
    «Vielleicht.»
    Dieses «Vielleicht» sagt sie mit einem Fragezeichen in der Stimme, das ihm genauso am Herzen schmirgelt wie der Griff ins Geldrückgabefach. Er fragt nach ihrer Telefonnummer. Sie sagt, die müsse er selber herausfinden, das gehöre dazu. Wozu, fragt er und erntet einen lehrerinnenhaften Blick. Ihr Nachname sei Hodler.
    «Du bist nett», sagt er.
    «Vielleicht», sagt sie, wieder mit diesem Fragezeichen in der Stimme, geht um die Ecke und ist verschwunden.
    Er kommt sich selber wie verschwunden vor. Es würde ihn nicht erstaunen, wenn er sein eigenes Spiegelbild im Kioskfenster nicht finden könnte. Er steckt die Hand in die Hosentasche, und nichts darin scheint ihm bekannt. Den Schlüssel, den er zweifelnd zwischen den Fingern reibt, könnte er wohl wegschmeißen. Der paßt garantiert in keine ihm bekannte Tür.
    Regina Hodler.
    War im Bahnhof noch die wetterlose Niemandslandstimmung aller Bahnhöfe, so herrscht draußen schon der rauschende Frühling. Die, die immer um den Bahnhof herumstreichen, weil sie annehmen, das, worauf sie warten, passiere hier, haben die Jacken, die Hemdkrägen, die Gesichter und, in einigen weniger appetitlichen Fällen, sogar die Hosen aufgeknöpft.
    Die zweite Sorte Bahnhofsbenutzer, die nicht darauf warten, daß irgendwas passiert, sondern, daß ein Zug einfährt, werden von den andern heute weniger angepöbelt als sonst. Normalerweise herrscht Krieg zwischen den beiden Lagern. Aber an einem Tag wie diesem kann man sie auf den ersten Blick kaum auseinanderhalten. Die, die etwas vorhaben, gehen langsamer, und die, die nichts vorhaben, schlendern schneller als sonst. Und alle lassen das Take-it-easy-Gesicht aus dem Hemdkragen sprießen.
    Sig dreht noch mal um, denn er will die Mappe im Schließfach deponieren. Auf dem Weg dorthin fällt ihm auf, daß niemand ihn prüfend ansieht, ob er nicht vielleicht Türke, Student oder sonst-was zum Verachten ist. Außerdem geht nichts schief. Das ist auch selten. Er hat das Kleingeld fürs Schließfach passend, das Schließfach ist nicht defekt und obendrein auch noch groß genug für die Mappe.
    Das muß am Datum liegen.
    Der Frühling schmiert die arthritisch knarzende Welt mit frischem öl, und die Sehnsüchte flutschen wieder in alle Richtungen. Wie auch ihre pflanzlichen Verwandten, die Samen.
    Ob sie mit dem Schweizer Jugendstilmaler Ferdinand Hodler verwandt ist? Seine Enkelin? Im Telefonbuch stehen drei Hodlers. Irma, Krankenschwester, Christian, ohne Berufsangabe, und Regina, ebenfalls ohne Berufsangabe. 37   33   91. Ob sie allein wohnt? Er wird sie jedenfalls nicht nach einem Freund fragen. Das ist nicht sein Stil. Zu ungeniert. Vielleicht kommt sie ja mal selber auf das Thema zu
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