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Einsam, zweisam, dreisam

Einsam, zweisam, dreisam

Titel: Einsam, zweisam, dreisam
Autoren: Thommie Bayer
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fuhr Horb vorbei, und die Abenddämmerung ist schon in ihr letztes, farbloses Stadium getreten.
    Wie oft zu dieser Tageszeit, ist Sig in einer seltsamen Mischung aus Melancholie und Aufgeregtheit glücklich. Andere fühlen sich so, wenn Vollmond ist. Sie raseninnerlich und wissen nicht, wohin. Bei Sig ist es die Dämmerung, die ihn bodenlos und grenzbereit macht.
    Im Gepäcknetz über ihm liegt eine Mappe mit Arbeiten, die er Freiburger Galeristen vorlegen will. Eine Verabredung hat er schon. Morgen, zehn Uhr in der Galerie Eberwein. Pünktlich, hat der Galerist am Telefon gesagt, denn um elf müsse er nach Zürich. Deshalb fährt Sig schon heute abend.
    Mittlerweile ist es Nacht geworden. Eine hübsche Nacht. An den Hängen des Neckartals liegen Dörfer, deren Häuser man gar nicht mehr sieht. Was man noch sieht, ist immer ein Schwung Lichter, die aussehen wie ein paar Händevoll Sterne, von einem achtlosen Engel verstreut und nicht wieder aufgeputzt.
    Wenn jetzt noch eine Raffinerie vorbeikäme, dann wär die Weihnachtsstimmung perfekt, denkt Sig. Aber zwischen Horb und Rottweil gibt es nichts dergleichen. Nun ja, die gefallenen Sterne sind schön genug.
    Der Walkman hüllt Sig ein in die traurig-voluminöse Musik von Pekka Pohjola. Wenn er die Augen schließt, dann sieht er schwarze Seen, schwarze Wolken und schwarze Wälder. Und wenn er die Augen wieder öffnet, huschen diese hübschen Sternflecke vorbei. Auf einmal sitzt da ein Mädchen.
    Sie schaut ihm direkt in die eben aufgeschlagenen Augen. Vor lauter Überraschung lächelt er. Er kann gar nicht anders. Eben kommt er von den schwarzen Seen, und das Mädchen sitzt so mittendrin in seinem Blickfeld, daß er gar nicht anders kann, als sie ins Bild aufzunehmen. Er heißt sie willkommen auf ihrem schwitzklebrigen Zweiter-Klasse-Plastik-Sitz. Statt der Sterne.
    Wie lang sie wohl schon da sitzt?
    Sie lächelt auch. Sie scheint etwas zu sagen. Ihr Mund bewegt sich.
    «Was?»
    Er muß geschrien haben, denn jetzt lacht sie und legt einen Finger an die Lippen.
    Die Lippen! Er hat einen Stempel im Herzen. Der wird nie wieder rausgehen, das weiß er jetzt schon. Er erinnert sich an das Bild eines Präraffaeliten, dessen Namen er vergessen hat: Hellrote Rosen in einer Vase. Die Rosen sind nicht mehr weit vom Welken entfernt, aber sie tragen noch in sich das Sehnen, die elegante Gier, das Feuchte und Versprochene des Zeitpunktes, an dem sie verschenkt wurden, und des Grundes, aus dem sie angenommen wurden. Eine dieser Rosen liegt, kaum festgehalten von einer müden Mädchenhand, auf einem Tisch. Das Mädchen hat den Kopf auf die Arme gelegt, als warte sie auf das Welken der Rosen. Die eine in ihrer Hand vertrocknende Rose stirbt als Beweis für das Vergehen der Liebe, das Versiegen der Begierde, und die ganze Melancholie zittert vor erinnerter Wollust.
    Genau diese Farbe, genau dieses blasse Rot schimmert von den Lippen des Mädchens. Große, weiche Lippen, die genau in der Mitte von einem fordernden Zeigefinger durchgestrichen werden.
    Die Lippen lachen über ihn. Offenbar schaut der ganze Waggon zu ihnen her. Sig macht eine entschuldigende Geste und nimmt die Kopfhörer ab.
    Noch bevor ihn der Mut, den ihm sein eigenes unverhofftes Lächeln gemacht hat, wieder verlassen kann, sagt er: «Ich dachte immer, Poesie und Wirklichkeit seien so was wie Feinde, aber heute liegen Sterne mitten in der Wirklichkeit rum, und eine Frau hat Rosen im Gesicht.»
    «Rosen?»
    «Vielleicht ist es bloß dein Mund, aber es sieht genau wie Rosen aus.»
    Sie versucht nach unten, über ihre Nasenspitze weg zu schielen. Als er lacht, sagt sie: «Quatsch.»
    «Das ist kein Quatsch», sagt er, «das ist Poesie.»
    Sie sieht ihm ernst in die Augen: «Dann wollen wir aber hoffen, daß du kein Dichter bist.»
    Das bezeichnet er als Tiefschlag. Sie erklärt ihm, so tief wie einer sinken müsse, um die Botanik für seine Gefühle herhalten zu lassen, könne man gar nicht schlagen.
    Er ist ernstlich beleidigt.
    So was nenne der Psychologe eine Projektion. Woher sie wisse, daß er von Gefühlen rede? Außerdem bemühe er die Botanik höchstens in transzendierter Form, nämlich in der Malerei. Er habe ein Bild zitiert. Das wisse sie eben nicht.
    «Aber eine Nummer kleiner als Rosen wär’s doch gegangen», sagt sie in entschuldigendem Ton.
    Sig ist nicht zu versöhnen: «Hab ich Baccara gesagt? Ich könnte ja ganz kleine Röschen meinen. Heckenröschen zum Beispiel.»
    «Warum nicht Veilchen?»
    «Ein
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