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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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es sich anfühlte, als hätten wir Ihm einen Sohn gestohlen, ihn Seinen Händen entrissen – das war nämlich der Spaß, der gleiche, den ich gehabt hatte, als ich mit einer Tüte voller Klamotten aus Macy’s rausgelaufen war –, wie Er ihn bestenfalls eine Weile über unseren Köpfen baumeln ließ und wir danach springen mussten wie ein Kind nach Bonbons, während Er darüber lachte, wie wir uns danach sehnten und bemühten. Aber schenken? Es fühlte sich nicht so an, als hätte Er uns irgendetwas geschenkt . Eher, als hätte Er es nicht mehr festhalten können. Als hätte Er aufgegeben. Als hätte Er die Kinder ihr Kind kriegen lassen.
    – Er atmet nicht, sagte die Hebamme.
    – Es tut mir leid , sagte ich zu Gott. – Es tut mir so leid, so leid, verflucht scheißleid, es tut mir scheißleid.
     
    Aber deswegen haben wir ihn nicht beschnitten. Vielleicht doch. Ich weiß es nicht.
    – So was kommt vor, sagte die Hebamme später.
    Seine Atemwege waren verstopft gewesen. Sie hatte ihm Nase und Mund frei gesaugt, ihn beatmet, und bald hatte er von allein geatmet.
    Am nächsten Tag kam der Arzt und fragte nach einigen Routineuntersuchungen am Kind, ob wir vorhätten, ihn zu beschneiden.
    – Wir glauben schon, sagte Orli.
    Vielen Dank auch, Google. Für jeden medizinischen Grund, ihn nicht zu beschneiden, gab es offenbar auch einen, ihn doch zu beschneiden. Für jeden psychologischen Grund, ihn zu beschneiden, gab es offenbar auch einen, es nicht zu tun.
    Wir ließen es den Arzt machen. Wenigstens war da kein Gott im Spiel.
    – Folgen Sie mir, sagte der Arzt.
    Folgen, weggehen, reisen. Es war noch immer nicht vorbei.
    Und Abraham stand auf … und er ging dahin. Vielen zufolge war das nicht Abrahams entscheidender Moment: Der Moment, als er um sich blickte, sah, was aus der Welt um ihn herum geworden war, und siehe, er ging weg und sagte: – Scheiß drauf. Dafür wird er von den Anhängern der großen Religionen der Welt als ihr Vater betrachtet, Anhängern, die seinen Mut und seine Geistesstärke in einem Atemzug loben und im nächsten jeden aus ihrer Herde bedrohen, der so dumm sein könnte zu erwägen, selbst dahin zu gehen. Als ich das Körbchen meines Sohnes den Flur entlangschob, fragte ich mich, ob dieses Weggehen, dieses Suchen nach etwas Neuem, diese Desillusionierung von der verfügbaren Auswahl für manche die grundlegende beschissene Bedingung unseres Lebens ist. Ich fragte mich, ob wir alle jetzt Vorhäute sind. Und ich fragte mich, wenn Abraham heute lebte – in Monsey, in Mekka oder in Vatikanstadt –, ob er nicht morgens aufstehen, sein Kamel bepacken und noch einmal sagen würde: – Scheiß drauf.
    – Keine Sorge, sagte der Arzt, als er unseren Sohn ins Untersuchungszimmer rollte. – Ich habe es bei allen meinen Söhnen gemacht.
    – Wir machen unsere Steuererklärung selbst, sagte ich.
    – Sie sind sehr witzig, lachte der Arzt.
    Ich stellte ihn mir an einen Pfahl gebunden vor: ich stellte mir vor, wie ich die Haut auf seinem glänzenden kahlen Schädel abzog und abschnitt. Ich stellte mir vor, wie ich ihm die Haut vom ganzen Körper abzog und wie er schrie und schrie und um Gnade bettelte, und wenn sie dann zu seinen blutigen Füßen auf einem Haufen lag, sprach ich den Kiddusch über einem Becher Wein und aß ein Stück Kuchen.
    – Sehr, sehr witzig, sagte er.
    Ich presste die Hände auf die Ohren und wandte mich ab. Mein Sohn brüllte. Ich schloss die Augen. Synagogen brannten. Toras wurden in Fetzen gerissen. Götter wurden verboten. Der Augenblick, in dem mein Sohn Jude wurde, war der, als ich, mehr denn je in meinem Leben, spürte, dass ich keiner war.
     
    Am Nachmittag darauf ging ich nach Hause, fütterte die Hunde, besorgte anständiges Essen für Orli und sah nach meinen E-Mails. In den Tagen nach der Geburt fragte ich mich dann, ob Gott unseren Sohn gerettet hatte. Ob er vielleicht tot geboren werden sollte, Gott aber eingriffen habe. Falls Er meine Gebete erhört hatte. Falls der Zettel gewirkt hatte. Ich loggte mich in VirtualJerusalem.com ein und ging auf die Schicken-Sie-ein-Gebet-Seite. Das sollte nun weniger ein Gebet als ein Danke werden, aber dafür hatten sie keine eigene Seite. Ich tippte meinen Namen ein, meine E-Mail-Adresse und schrieb in den Nachrichtenkasten darunter einfach:
     
    Danke.
    S.
     
    Ich wollte gerade die Send-Taste drücken, als ein blinkender gelber Textkasten am Ende der Seite meine Aufmerksamkeit weckte.
    Aufgrund eines Systemausfalls , stand
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