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Wie Fackeln im Sturm

Wie Fackeln im Sturm

Titel: Wie Fackeln im Sturm
Autoren: Lynsay Sands
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PROLOG
     
    Claymorgan, England, Frühjahr 1199
     
    Die Blätter rauschten, als sie durch den Wald lief. Von den Baumwipfeln hallte kindliches Lachen wider, und ihr goldenes Haar wehte im sanften Wind. Das Sonnenlicht fiel hier und da durch das Blattwerk, und bei jedem Schritt spürte sie die vom Regen noch feuchte Erde unter ihren bloßen Füßen.
    Willa liebte es, nach einem Regenschauer barfuß zu laufen. Wenn allerdings Eada oder Papa davon erführen, bekäme sie gewiss Ärger, das wusste sie. Doch das nahm sie in Kauf.
    Als sie eine Lichtung erreichte, blieb sie plötzlich stehen. Im selben Moment schwand ihr Lachen, und die unbeschwerte Fröhlichkeit in ihrer Miene verblasste. Da stimmte etwas nicht. Es war so still. Viel zu still. Die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern und verharrten regungslos in den Bäumen. Selbst die trägen Käfer schwirrten nicht mehr durch die warme Luft. Zudem konnte sie Luvena nicht mehr hören, die eben noch vor ihr hergelaufen war.
    Besorgt zog Willa die Stirn in Falten und schaute sich vorsichtig auf der Lichtung um.
    Ein leises Rascheln ließ ihren Kopf herumschnellen. Von dem kleinen Felsvorsprung, an dem sie beim Betreten der Lichtung vorbeigekommen war, fiel etwas zu Boden. Ein Stoffbündel – so golden wie das gleißende Sonnenlicht – flatterte durch die Luft und schlug mit einem unheilvollen dumpfen Geräusch auf dem Boden auf.
    Willa schluckte beklommen. Ihr Blick fiel auf den leuchtenden Haufen aus golddurchwirktem Gewebe auf dem Gras. Es war das Gewand, das Lord Sedgewick ihr aus London mitgebracht hatte. Dasselbe, das Luvena so gerne hatte anziehen wollen.
    Erst jetzt sah sie die kleinen, reglosen Beine, die unter den Röcken hervorlugten. Einer der weichen Lederschuhe fehlte. Auf dem schillernden Gewebe zeichnete sich eine Hand ab, wie zu einer Bitte erhoben. Leuchtende rotgoldene Zöpfe lagen im Gras. Luvenas bleiches Gesicht war zur anderen Seite gewandt, ihr Kopf seltsam verdreht.
    All diese Bilder stürmten auf Willa ein, und als sie schließlich begriffen hatte, was für ein Anblick sich ihr bot, hatte sie bereits einen gellenden Schrei ausgestoßen.

1. KAPITEL
     
    Die Tür der einfachen Hütte wurde ungestüm aufgerissen. Hugh schickte sich an, vom Pferd zu steigen, hielt indes bei dem Geräusch inne und beäugte vorsichtig die alte Frau, die ihn jetzt von der Tür aus beobachtete.
    Eada. Sie musste sehr alt sein; ihre Schultern waren von den Jahren gebeugt, ihre Finger und Hände verschrumpelt. Langes weißes Haar legte sich wie ein Umhang um ein runzeliges, von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht. Nur die kobaltblauen Augen wirkten wachsam und kein bisschen gealtert. Sie bargen ein Wissen, das beunruhigend war.
    Wenn sie dir in die Augen schaut, sieht sie bis auf deine Seele und erkennt deine Fehler wie auch deine Vorzüge. Im Bodensatz deines Weinkelchs kann sie dir die Zukunft vorhersagen, und in den Linien deines Gesichts vermag sie deine Vergangenheit zu lesen.
    All diese Warnungen waren Hugh bekannt, und doch zuckte er innerlich zusammen, als er in die Augen der alten Hexe blickte. Sein ganzer Leib wurde von einem namenlosen Unbehagen befallen, als er sich ausmalte, dass sie wirklich in ihn hineinschaute und seine Gedanken las. Einen Moment lang schlug sie Hugh nur mit der Macht ihrer durchdringenden Augen in ihren Bann, bevor sie sich von ihm abwandte und wieder in der Hütte verschwand. Sie ließ die Tür offen – zweifellos eine Einladung, ihr zu folgen.
    Hugh atmete erleichtert auf, nachdem das alte Weib sich in das Dunkel der Behausung zurückgezogen hatte, und blickte zu seinem Begleiter hinüber, der sein Ross neben ihm zum Stehen gebracht hatte: Lucan D'Amanieu, sein alter Freund und Vertrauter. Hugh hätte es gern gesehen, wenn sein Gefährte die törichten Vorahnungen zerstreut hätte, die unversehens in ihm hochstiegen. Mit einem Male war in ihm der alte Glaube aus Kindheitstagen an Hexen und unheimliche, verwunschene Orte wieder zu neuem Leben erwacht. Er hatte sich darauf verlassen, dass Lucan belustigt eine Braue hochziehen und irgendeine spöttische Bemerkung machen würde, um das Gefühl der Beklemmung als unbegründet erscheinen zu lassen, doch wie es schien, war auch sein vernunftbegabter Freund an diesem Tag von unheimlichen Einbildungen erfasst. Anstatt ihn zu beruhigen, war Lucan beklommen zu Mute.
    „Glaubst du, sie weiß es?“ fragte er.
    Hugh erschrak. Bislang war ihm der Gedanke gar nicht gekommen, dass die Alte alles
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