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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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gelesen. Nichts hilft. Ich lebe Tag für Tag mit Ihm, und siehe, Er ist noch immer zornig, noch immer rachsüchtig, noch immer – auf ewig – stinkig.
    – Der Mensch plant, sagten meine Eltern, – und Gott lacht.
    – Wenn ihr es am wenigsten erwartet, warnten meine Lehrer, – erwartet es.
    Und ich erwarte es. Den ganzen Tag läuft in meinem Kopf ein nie enden wollendes Horrorfilmfestival, mein eigenes Grand Guignol. Es vergeht keine Stunde am Tag ohne irgendwelche grausigen, entsetzlichen Bilder von Tod, Qualen und Folter. Ich gehe auf der Straße, kaufe Lebensmittel ein, tanke den Pick-up voll; Freunde sterben, Verwandte werden ermordet, Haustiere von Lieferwagen totgefahren.
    Vor mir, hinter der Kreuzung, wo die Straße eine scharfe Rechtskurve macht, werden die Autos langsamer, Bremslichter flammen auf, als sie um die Kurve verschwinden. Ein Unfall, stelle ich mir vor, und ich stelle mir vor, wie ich daran vorbeifahre – Du Arschloch , werde ich den Fahrer kritisieren, – hättest doch wissen müssen, dass man hier nicht schnell fährt …, als ich den Wagen erkenne. Es ist ein schwarzer Nissan. – Das könnte der von Orli sein … Und dann sehe ich meine Frau am Steuer, zermatscht, blutend, Kopf nach hinten, Zunge raus. Sie ist tot. So kann ich mich zum Weinen bringen; wenn ich mich gerade besonders in Selbsthass ergehe, kann ich ihr, wie ein Fotograf von Reuters, auch ein Kinderspielzeug in den blutgetränkten Schoß oder eine Schachtel in buntem Geschenkpapier aufs Armaturenbrett legen, genau über der Stelle, wo ihr Kopf draufgeknallt war.
    Außen – Tag – später. Ich sitze auf dem Geländer, ich bin untröstlich.
    – Sie sind ja noch jung, sagt ein Polizist. – Das ganze Leben noch vor sich.
    – Sie war schwanger, flüstere ich.
    Großaufnahme vom Gesicht des abgebrühten Polizisten. Er hat schon alles gesehen. Aber das …
    Eine Träne rollt ihm übers Gesicht.
    Fin .
    Unser ungeborenes Baby ist der jüngste Star in meinen Horrorshows. Die Empfängnis ist gerade sechs Wochen her, und schon ist es deformiert, gestört, erkrankt, fehlgeboren, fehldiagnostiziert, mit einem Tumor verwechselt und bestrahlt, man hat darauf gesessen, es angestoßen, bei einem unbesonnenen späten Geschlechtsverkehr aufgespießt und überhitzt, als Orli in der dampfenden Badewanne einschlief.
    – Ist das auch gut so?, hatte ich sie gefragt, als sie seufzend in die Wanne glitt. – Kommt mir ein wenig heiß vor.
    – Raus, hatte sie gesagt.
    Ich fuhr mit dem Finger durch den Wasserdampf, der sich auf der Duschscheibe abgesetzt hatte.
    – Du brauchst es Ihm nicht unbedingt leicht zu machen, sagte ich.
    – RAUS .
    Als ich klein war, sagten sie mir, wenn ich stürbe und in den Himmel käme, würden die Engel mich in ein riesiges Museum voller Gemälde bringen, die ich noch nie gesehen hätte, Gemälde, die von sämtlichen Künstlerspermien geschaffen worden seien, die ich in meinem Leben vergeudet hätte. Danach würden mich die Engel in eine riesige Bibliothek voller Bücher bringen, die ich nie gelesen hätte, Bücher, die von den vielen produktiven Spermien geschrieben worden seien, die ich in meinem Leben vergeudet hätte. Danach würden mich die Engel in ein riesiges Gotteshaus mit Hunderttausenden von Juden darin bringen, die alle beteten und studierten. Juden, die geboren worden wären, wenn ich sie nicht in meinem abscheulichen, gescheiterten, verachtenswerten Leben getötet, vergeudet, mit einer schmutzigen Socke weggewischt hätte (in jedem Ejakulat sind ungefähr 50 Millionen Spermien, das macht für jedes Mal wichsen rund neun Holocausts; ich kam gerade in die Pubertät, vielmehr: die Pubertät kam über mich, und ich beging durchschnittlich drei bis vier Mal täglich einen Genozid). Sie sagten mir, wenn ich stürbe und ich in den Himmel käme, würde ich bei lebendigem Leib in gewaltigen Fässern gekocht, die voll mit dem Sperma wären, das ich in meinem Leben vergeudet hätte. Sie sagten mir, wenn ich stürbe und ich in den Himmel käme, würden mich alle Seelen eines jeden Spermiums, das ich im Laufe meines Lebens vergeudet hätte, in alle Ewigkeit durchs Firmament jagen. Um diesen Mist zu erzählen, muss man nicht geweiht sein – nur zu, versuchen Sie’s! –, man braucht dazu nur Terror, Blutdurst und einen Sinn für makabre, brutale Ironie. Meine ist folgende: Ich befürchte, dass Gott alle gesunden, perfekten, talentierten Spermien in die frühen Ejakulate eines Mannes steckt – die dereinstige
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