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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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brachte ihm eine Dose gefrorenen Orangensaft, die er sich in den Nacken drücken konnte, was irgendwie das Blut stillen sollte.
    Rabbi Kahn hatte uns gelehrt, es sei verboten, am Sabbat gefrorenen Orangensaft aufzutauen, weil die Veränderung einer Speise von fest zu flüssig als Kochen angesehen werde und Kochen als Arbeit, und selbst der Herr habe sich am Sabbat der Arbeit enthalten. Von den neununddreißig Kategorien von Arbeiten, die am Sabbat verboten sind, ist Kochen die Kategorie 7. Deshalb darf man auch kein Licht machen – der Strom bringt den Glühfaden zum Leuchten, was als Brennen angesehen wird, was als Arbeit angesehen wird (Kategorie 37).
    Mein Vater kam an den Tisch zurück, sang betrunken ein paar Sabbatlieder mit frei erfundenem Text und haute dazu schwer mit der Faust auf den Tisch. Ich saß vornübergebeugt da und malte geistesabwesend Kringel in das Kondenswasser, das sich auf dem silbernen Krug bildete. Mein Vater schlug mir auf die Hand – Schabbes!, brüllte er (Schreiben, Kategorie 5). Irgendwann torkelte er ins Bett und schlief ein; sein lautes Schnarchen drang bis zu uns ins Esszimmer, wo wir trübselig in unserem Essen stocherten.
    Am folgenden Montagmorgen, wir saßen alle über unseren Segenbüchern und lernten, klopfte es an der Tür von Rabbi Kahns Klassenzimmer, und Rabbi Goldfinger, der Rektor der Jeschiwe, trat würdevoll ein. Wir erhoben uns alle. Die beiden Rabbis besprachen sich eine Weile leise und bedeuteten uns dann, uns zu setzen. Nachdem Rabbi Goldfinger sich einige Male nachdenklich über den langen schwarzen Bart gestrichen hatte, seufzte er tief und teilte uns dann mit, in der Nacht zuvor habe der Vater unseres Klassenkameraden Avrumi Gruenembaum einen Herzschlag erlitten und sei verstorben.
    Manche haben einfach Schwein.
    – Gelobt sei der wahre Richter, sagte Rabbi Kahn und nickte dazu.
    – Gelobt sei der wahre Richter, antworteten wir alle und nickten dazu.
    Ich fragte mich, was Mr Gruenembaum wohl getan hatte, dass er den Tod verdiente. Hatte er sich vor Götzen verneigt? War er vier Schritte ohne seine Kipa gegangen? Was es auch war, es musste ziemlich schlimm gewesen sein.
    Als Rabbi Goldfinger sich zum Gehen wandte, hielt er inne und erinnerte uns alle, indem er streng mit dem Finger wackelte, dass die Weisen uns sagten, die Tora sage uns, alle Sünden eines Jungen würden bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr seinem Vater zugeschrieben.
    Ich blickte auf Avrumis leeren Stuhl. Avrumi war ein pummeliger Junge mit schwerer Kieferfehlstellung und üblem Mundgeruch, aber jetzt hatte ich plötzlich großen Respekt vor ihm. Ich überlegte, was er wohl getan hatte, um den Tod seines Vaters zu verursachen. Was es auch war, es musste ziemlich schlimm gewesen sein.
    Mit finsterem Blick riet Rabbi Goldfinger uns allen, zu Ha-Schem zu beten, auf dass der Heilige, gesegnet sei Er, uns vergebe, damit Er sich nicht entschließe, auch unsere Väter zu töten.
    Mein Herz tat einen Sprung.
    – Gesegnet sei Ha-Schem, sagte er.
    – Gesegnet sei Ha-Schem, antworteten wir.
    Gesegnet sei Ha-Schem war richtig – ganz plötzlich hatte ich zwei Möglichkeiten, alles besser zu machen. Ich konnte für meine Mutter den Segenwettbewerb gewinnen, und ich konnte so viel sündigen, dass Ha-Schem meinen Vater töten müsste.
    Der tapfere Avrumi Gruenembaum. Vielleicht hatte er ja an einem Schabbes -Abend mal das Licht angeknipst. Vielleicht hatte er Milch getrunken, nachdem er Fleisch gegessen hatte. Vielleicht hatte er sich berührt.
    An jenem Abend aß ich kurz vor dem Zubettgehen eine Hähnchenkeule, spülte sie mit Milch hinunter, berührte mich und knipste das Schlafzimmerlicht an und aus.
    – Geh an das Licht, und ich brech dir die Hände!, brüllte mein Vater.
    Es sollte eine betriebsame Woche werden.
     
    Der Segenwettbewerb lief genauso wie der Buchstabierwettbewerb.
    Es gibt sechs verschiedene Segen für Lebensmittel: Ha-mozi , der Segen für Brot, Mesones , der Segen für Weizen, Ha-gafen , der Segen für Wein oder Traubensaft, Ha-ez , der Segen für Dinge, die auf Bäumen wachsen, Ha-adama , der Segen für Dinge, die in der Erde wachsen, und Sche-hakol , der Segen für alles andere.
    Bagel? Ha-mozi .
    Hafermehl? Mesones .
    Gefilte Fisch? Sche-hakol , der Segen für alles andere.
    Aber das war nur der einfache Teil. Viel komplizierter wurde es, wenn man erst Lebensmittel mischte: Manche Lebensmittel sind anderen überlegen, und in der Vermischung mit untergeordneten Lebensmitteln
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