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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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schwarzes Gebäude im Himmelszentrum vor – jede Menge Stahl und Beton, ganz das Großunternehmen, davor eine Raucherecke und im zweiten Stock eine Cafeteria –, das Gebäude mit dem Hauptsitz von Gottes Abteilung für Ironische Bestrafisierung darin, dem Ort, wo genau solche rasend komischen Launen erarbeitet werden. Dorthin kommen die Schriftsteller nach dem Tod – die Romanciers, die Dichter, die Sitcom-Autoren, die Stand-up-Komiker –, zu einem stählernen Schreibtisch und einem harten Stuhl in einem winzigen Kabäuschen in der AIB , wo die Geschichte jedes Menschen ihr eigenes originelles Ende erhält, aber jedes gleich befriedigend ist: schrecklich.
    Die Fahrerin hinter mir drückt auf die Hupe. Es ist grün geworden. Ich fahre um die Kurve, in der die Autos langsamer wurden, um einen Jogger zu passieren, der am Straßenrand dahintrabt. Kein Unfall, keine tote Ehefrau. Noch nicht jedenfalls, nicht heute. Ich fahre vorbei, vorübergehend erleichtert, aber nur vorübergehend, bis ich mir vorstelle, dass der Jogger mein Freund Roy ist und dass Roy, sobald ich von dieser Straße in die nächste abbiege, irgendwo hinter mir von einem Wagen überrollt und getötet wird. Von einem Lieferwagen. Einem Lieferwagen, der zu Roys Haus unterwegs ist. Und ihm – Moment – seine Pornos liefert. Haha , werden sie in der AIB lachen, das wird ihm eine Lehre sein . Jemand wird eine Gehaltserhöhung bekommen. In der Cafeteria wird es Kuchen geben. Wenn ich Ihnen schon mal begegnet bin und Sie auch nur ansatzweise mochte, habe ich Sie mir tot, enthauptet, zerstückelt vorgestellt.
    – Sie bestrafen sich selbst, sagt Ike. Ike ist mein Psychiater.
    – Ich weiß, antworte ich.
    – Sie haben nichts Unrechtes getan, sagt er.
    – Ich weiß, antworte ich.
    Ike sagt noch etwas, aber ich höre ihm nicht zu. Ich stelle mir den Anruf seiner schluchzenden Frau vor.
    – Ike ist tot, sagt sie.
    – Ich weiß, antworte ich.
    Und ich weiß auch, wie:
    Schrecklich.

2
     
    Rabbi Kahn betrat unser Klassenzimmer, ich war in der Dritten, hängte seinen langen schwarzen Mantel auf, nahm seinen großen schwarzen Hut ab und verteilte an alle Schüler ein kleines schwarzes Büchlein mit dem Titel Handbuch der Segnungen .
    Wir hätten eine Woche, sagte er, um uns auf den alljährlichen Segenwettbewerb der Spring Valley Yeshiva vorzubereiten.
    Mein Herz tat einen Sprung.
    Genau das brauchte meine Mutter: Wenn ich den Segenwettbewerb gewann, würde sie alle Sorgen in unserem Haus vergessen – einen Sohn zu haben, der ein Talmid chochem war, ein studierter Schüler, das war das Allergrößte. Ihr Bruder war ein geachteter Rabbi, und wenn ihr Mann schon keiner sein konnte, vielleicht ja dann ihr Sohn.
    Das Handbuch der Segnungen war eine siebzigseitige Auflistung hunderter verschiedener Gerichte, eingeteilt in diverse Kapitel: Suppen, Brote, Fisch, Nachspeisen. Beim Durchblättern dämmerte mir langsam das Ausmaß der Herausforderung, die vor mir lag, und sogleich starb ich vor Hunger.
    Falafel?
    Hering?
    Aubergine mit Parmesan?
    Ich hatte einiges vor mir.
     
    Freitagnachmittags schloss die Jeschiwe früh, damit wir alle nach Hause rennen und unseren Eltern bei der Vorbereitung auf Schabbes, den Sabbat, helfen konnten. Rabbi Kahn sagte uns, die Weisen sagten uns, die Tora sage uns, dass die Vorbereitung auf den Sabbat dem Sabbat selbst an Bedeutung gleichkomme. Ein Großteil meiner Vorbereitung bestand darin, das Haus nach koscherem Wein abzusuchen und ihn ins Klo zu leeren. Es war eine undankbare Arbeit, die ich niemandem gegenüber zugab. Die Wut meines enttäuschten Vaters darüber, dass er seinen Manischewitz Concord Grape nicht bekam, war furchtbar, aber sie war viel besser als die Wut meines betrunkenen Vaters, wenn er ihn bekam. Ich durchsuchte die Speisekammer, ich durchsuchte die Garage, ich durchsuchte den Schrank meines Vaters. Aber ich war ja erst acht, und immer war irgendwo, wo ich vergessen hatte nachzuschauen, noch eine Flasche Kedem versteckt.
    An jenem Abend packte mein Vater, betrunken von einer Flasche Blush Chablis, die verschont geblieben war, meinen älteren Bruder am Kragen und zerrte ihn vom Sabbat-Tisch weg. Er zerrte ihn den ganzen Weg die Treppe hinab in unser Zimmer im Souterrain und knallte die Tür zu. Selbst das Tafelsilber machte einen Satz.
    – Wer möchte den letzten Matzeknödel?, fragte meine Mutter. – Ich habe extra viel gemacht.
    Als mein Bruder wieder an den Tisch kam, blutete ihm die Nase. Meine Mutter
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