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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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da, sind sämtliche Nachrichten für die Klagemauer der letzten Wochen verloren gegangen. Das System funktioniert jetzt wieder normal, und wir bitten für den technischen Fehler um Entschuldigung.
    Das Telefon klingelte. Es war meine Mutter. Ich glaubte, gute Nachrichten für sie zu haben.
    – Wie heißt er?, fragte meine Mutter.
    – Paix, sagte ich.
    – Max?
    – Paix.
    – Was ist denn Paix für ein Name?
    – Danke, sagte ich. – Uns gefällt er auch.
    – Max, mit M ?
    – Paix. Mit P . Und einem i . Das bedeutet »Frieden«. Wie mein Name, nur ohne das mit Gott.
    – Warum habt ihr euer Kind denn »Frieden« genannt?
    – Was?
    – Wer nennt sein Kind denn »Frieden«?
    – Ihr habt euer Kind »Frieden« genannt.
    – Ich habe mein Kind »Frieden« genannt? Wen habe ich »Frieden« genannt?
    – Mich. Du hast mich »Frieden« genannt.
    Kurz nach dem Tod meines Bruders Jeffie wurde bei meiner Schwester Taubheit auf einem Ohr diagnostiziert. Ich wurde zwei Jahre später geboren, und daher, hatte meine Mutter mir erklärt, als ich noch kleiner war, habe sie mich Shalom genannt; ich sollte ihr Frieden sein.
    – Ich habe dich nicht »Frieden« genannt, sagte sie.
    – Mein Name bedeutet aber »Frieden«, Mom.
    – Ja, schon, aber deswegen haben wir dich nicht so genannt.
    Pause.
    – Hat er einen hebräischen Namen?
    – Nein.
    – Ach.
    Pause.
    – Darf ich fragen, ob es eine Bris gibt?
    Ich dachte, ich hätte gute Nachrichten für sie.
    – Ja, ja. Wir haben es den Arzt machen lassen.
    – Den Arzt?
    – Im Krankenhaus.
    – Wann?
    – Gestern.
    – Gestern?
    – Ja.
    – Wann ist er denn geboren?
    – Vor zwei Tagen.
    – Ach.
    Und das war dann wirklich das totale Kindspech.
    Jemandem zufolge muss die Beschneidung am achten Tag erfolgen, und sie muss von einem gottesfürchtigen, die Tora befolgenden Juden durchgeführt werden; und dieser gottesfürchtige, die Tora befolgende Jude muss die Lippen auf die Wunde drücken und Blut daraus saugen, und ich muss sagen: – Gesegnet seist Du, Herr unser Gott, König des Universums, der uns mit Seinen Geboten geheiligt und uns geboten hat, ihn in den Bund mit Abraham unserem Vater aufzunehmen.
    Es war so, als hätte ich bei der letzten Runde von Jeopardy! die richtige Antwort gefunden, aber vergessen, sie als Frage zu formulieren.
    Die Vorhaut brachte das Fass zum Überlaufen.

21
     
    Shalom –
    Ich habe mir gedacht, ich komme am Sonntag, um das Baby anzusehen. Ich kann um zwei da sein, und ich würde ihn so gern sehen.
    – Mom
     
    Samuel Beckett wurde oft vorgeworfen, Pessimist zu sein, was er bestritt. Vielmehr meinte er, diejenigen, die als Pessimisten bezeichnet würden, seien die wahren Optimisten – denn würden sie nicht glauben, dass die Welt, wie schrecklich sie auch sei, verbessert werden könne, würden sie das gar nicht erst zur Sprache bringen. Die Optimisten, führte er weiter aus, seien die wahren Pessimisten, indem sie so überzeugt davon seien, dass die Lage nicht mehr zu reparieren ist, dass sie nur so tun könnten, als sei damit alles in Ordnung.
    – Ich glaube, das geht gut, rief ich zu Orli hinab. Sie war unten mit Paix.
    Keine Antwort.
    – Im Ernst, sagte ich. – Ich bin nicht einfach nur optimistisch.
    Nichts. Ich horchte angestrengt. Keine Babygeräusche. Waren sie tot? Hatte Gott sie umgebracht? Hatte Er sie dazu gebracht, das Baby umzubringen und dann sich selbst? Wegen dieses Besuchs? Stand ich hier und rief ihr zu, dass ich glaubte, dieser Besuch werde gut werden, wo ihre Leichen unten schon blau wurden und …
    – Hast du was gesagt?, fragte Orli, als sie ins Schlafzimmer kam.
    – Alles in Ordnung?
    – Ja. Warum?
    – Nichts. Ich hasse dieses beschissene Haus. Man hört keinen Ton.
    – Manche bezahlen dafür mehr, sagte Orli. – Was hast du gesagt?
    – Ich sagte, dass ich glaube, dass der Besuch gut wird.
    Sie lachte.
    Eine Viertelstunde später sah ich vom Fenster aus, wie mein Vater sich mit einem großen, in buntes Geschenkpapier geschlagenen Karton abmühte, den er hinten aus seinem Kombi geholt hatte. Ich hatte sie länger nicht mehr gesehen. Sie wirkten beide alt. Die Zeit lief ab. Wohin, wusste ich nicht.
    Ich sah, wie mein Vater die Zähne zusammenbiss, wie sein Gesicht genau wie früher rot anlief. Er zog die Haustür auf und schob den Karton, einen Fluch unterdrückend, hindurch und setzte ihn auf dem Fußboden ab. Er stieß ihn mit dem Fuß in die Diele, hob die Hand gegen einen meiner Hunde, zog sie aber wieder
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