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Eine Billion Dollar

Eine Billion Dollar

Titel: Eine Billion Dollar
Autoren: Andreas Eschbach
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sagte er, »ein bisschen eng, um hier damit herumzukurven.«
    Er war alt geworden. Als hätte die Kälte des hohen Nordens ihm Falten ins Gesicht gegraben und sein einst so dunkles, volles Haar strähnenweise eisig weiß werden lassen. In seinen Augen schimmerte Schmerz.
    John fasste ihn am Ärmel und zog ihn mit sich, hinein in die Vorhalle, wo sie ein ruhigeres Eck fanden. »Lino, es tut mir so leid«, sagte er mit einem Kloß in der Kehle. »Dass das alles passiert ist damals…«
    Er schüttelte den Kopf. »Es braucht dir nicht leid zu tun, John. Ich bin selber schuld. Ich… na ja, ich habe geglaubt, ich sei verdammt schlau. Dabei war ich ein kompletter Idiot.«
    »Sie lassen dich nicht mehr fliegen, stimmt’s?«
    »Nicht wegen dir, bild dir bloß nichts ein. Es ist scheißkalt dort oben, und manchmal braucht man eben eine Menge Whisky, damit einem warm wird.« Lino kaute auf seiner Lippe herum, das wenigstens war immer noch seine Marotte. »Ich hab mich ziemlich gehen lassen, nachdem Vera diesen Immobilienmakler geheiratet hat. Die waren dicht dran, mich rauszuwerfen. Hat nicht viel gefehlt. Schätze, sie hielten es aber für die härtere Strafe, mich am Polarkreis Wache schieben zu lassen.«
    »Und weil du noch mal was angestellt hast, haben sie dich hierher geschickt.«
    Lino grinste dankbar. »Ja, vielleicht hab ich ein bisschen hart zugeschlagen in der Prügelei mit dem Kommandanten…«
    Sie lachten, und dann umarmten sie sich, unbeholfen, weil sie das zuletzt als Kinder getan hatten, und nur einen heilsamen Moment lang.
    »Das war echt seltsam«, meinte Lino danach mit feuchten Augen, die er sich verstohlen rieb. »Wie ich hierher gekommen bin, meine ich. Mein Kommandant hat bloß einen Anruf gekriegt, und peng, schon saß ich in der nächsten Maschine. Erst hab ich gedacht, er ist froh, mich loszuwerden, aber dann habe ich mir überlegt, ob uns jemand eine Chance geben wollte, uns wieder zu vertragen? Keine Ahnung.«
    »Kann doch sein«, nickte John. Er sah seinen Bruder an. »Warst du mal zu Hause?«
    Lino nickte gewichtig. »Am vierzigsten Hochzeitstag. Mutter war schwer enttäuscht, dass dir irgend so eine Fabrik in Bulgarien wichtiger war.«
    »Hmm«, machte John. »Kommenden Freitag haben sie, glaube ich, den Zweiundvierzigsten, oder? Ich könnte eine Woche bleiben, wenn das hier alles vorbei –«
    In diesem Moment trat eine zierliche Frau mit asiatischen Gesichtszügen auf John zu. »Mister Fontanelli? Entschuldigen Sie bitte. Man wartet drinnen auf Sie.«
    John sah Lino entschuldigend an. »Aber noch ist es nicht vorbei, wie du siehst.«
    »Befehl ist Befehl«, sagte Lino und salutierte. »Geh nur, ich passe solange hier draußen auf.«
    »Alles klar.«
     
    Der Saal der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist das wahrscheinlich eindrucksvollste Parlamentsgebäude, das Menschen jemals gebaut haben. Es ist der einzige Sitzungssaal auf dem Gelände, der das Emblem der Vereinten Nationen, die von einem Ölbaumzweig umkränzte stilisierte Erdkugel, enthält. Unübersehbar prangt es an der goldschimmernden Stirnseite des Saals, umgeben von einer Architektur, die den Blick des Betrachters in unnachahmlicher Weise führt und ein Bild bietet, das den Geist der Statuten vollendet wiedergibt. Zwei gewaltige, schräg gestellte, dunkle Mauervorsprünge umfassen in kühnem Schwung das Parkett. Hinter schmalen Fenstern darin sieht man die Dolmetscher, die unentbehrlich sind für die hier zu leistende Arbeit, doch wandert der Blick unaufhaltsam weiter, nach vorn auf das Podium und hinab auf das Rednerpult, und wer immer dort steht, im architektonischen Brennpunkt des Raumes, ist unübersehbar und erscheint zugleich klein, ein Mensch nur, angewiesen auf die Gemeinschaft der anderen Menschen und ihren Zusammenhalt.
    Achtzehnhundert Delegierte fasst der Saal, an langen, geschwungenen Tischen, lindgrün mit gelber Fassung und einem Mikrofon an jedem Platz. Eine große Kuppel wölbt sich über dem Parkett, aus der Strahler herableuchten wie Sterne. Wer diesen Saal zum ersten Mal betritt, dem stockt der Atem, und wer nicht völlig dem Zynismus anheim gefallen ist, der ahnt hier etwas von dem, was Menschen möglich wäre.
    Am Nachmittag des 27. Juni war der majestätische Raum fast leer. Vor dem Podium standen eine Hand voll Leute und besprachen sich, zwei davon trugen Fernsehkameras geschultert, und hoch über ihnen gingen Strahler an und aus. Jemand mit einem Klemmbrett in der einen Hand und einem quäkenden
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