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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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haben.
    Rhea trägt ein verwaschenes Paar Levi’s, eine dünne seidige Bluse von H&M und hat das Haar zusammengebunden. Sie ist barfuß und hat kein Make-up aufgelegt. An der Spüle lehnend, umklammert sie eine Tasse mit heißem Milchkaffee.
    «Morgen, Papa!»
    Rhea ist mit Sheldons Morgen-Look vertraut. Sie kennt auch seinen üblichen Gruß.
    «Kaffee!»
    Rhea reicht ihm einen.
    Sie sieht, dass unterhalb von Sheldons kastanienbraunem Morgenmantel haarlose, bleiche Beine hervorragen, die aber immer noch eine gewisse Form und Muskeln besitzen. Er schrumpft eindeutig zusammen, ist aber noch schlank und hat eine gute Haltung. Dadurch wirkt er größer, als er ist. Er schlurft durch die Gegend, schimpft und kommandiert herum, aber seine Schultern sind noch nicht eingefallen, und seine Hände zittern nicht, wenn er den Kaffeebecher mit dem Penthouse-Schriftzug hält – den Bestellschein auf der Rückseite des Magazins hat er, dem Aussehen des Mädchens nach zu schließen, bereits in den Siebzigern abgeschickt.
    Sie hat ihn angefleht, diesen Becher auszurangieren. Keine Chance.
    An jedem Ort außerhalb der Wohnung wäre Sheldon in diesem Aufzug verhaftet worden. Die eigentliche Frage ist jedoch, weshalb Lars sich darauf eingelassen hat, diese orientierungslose Kreatur, die Rhea so sehr liebt, bei sich aufzunehmen.
    Doch genau hierin liegt bereits die Antwort. Sie betet Lars geradezu an – vor allem wegen seiner Herzlichkeit, seines trockenen Humors und seiner Ausgeglichenheit –, und sie weiß, dass er sie ebenfalls anbetet. Er hat eine wandelbare Männlichkeit, die sich öffentlichen Blicken entzieht, aber in privatem Umfeld zum Ausbruch kommt wie ein brauner Knuddelbär, der auf einmal zum Raubtier wird.
    Rhea schreibt das seiner Erziehung zu, nicht allein seinem Charakter. Das norwegische Volk scheint gelernt zu haben, unkontrollierte männliche Gewalt zu zügeln und in eine soziale Balance zu bringen, ihre rauen Ecken und Kanten im öffentlichen Raum auszublenden und dennoch Momente der Intensität und Kraft zuzulassen. Lars ist ein sanfter Mensch, aber er ist auch ein Jäger. Schon als Junge hat sein Vater ihn mit zur Rentierjagd genommen. Sie haben Rentierfleisch für ein ganzes Jahr in der Kühltruhe. Rhea hat es versucht, aber sie kann sich ihn einfach nicht dabei vorstellen, wie er den Abzug drückt, einem Tier das Fell abzieht, seine Beute ausnimmt. Doch genau das tut er.
    Dennoch ist Lars mehr als nur ein Produkt seiner Umwelt. Seine Freundlichkeit ist von einer Tiefe, die Rhea – wie sie ahnt – nicht teilt. Sie verfügt nicht über diese versöhnliche Ader. Ihre Gefühle, ihr Geist, ihr Selbst sind stärker gespannt, viel stärker in einen ständigen Dialog auf der Suche nach Bedeutung, Zweck und Ausdruck verflochten. Ein Zwang, sich zu artikulieren und zu erklären, die Welt zu verstehen – wenn auch nur für sich selbst.
    Den Dingen ihren Lauf zu lassen, einfach so weiterzumachen, erst mal nichts zu sagen: Das ist nicht ihre Art.
    Das ist Lars’ Art. Er gibt sich mit den Menschen zufrieden, so, wie sie sich ihm zeigen. Was ihn ausmacht, ist nicht ein endloser Strom von Worten, Ideen und Ausbrüchen, sondern seine allumfassende Fähigkeit, dem, was auf ihn zukommt, gelassen entgegenzusehen. Es klar einzuschätzen. Er sagt, was gesagt werden muss, und damit hat es sich. Was für Rhea einen Willensakt darstellt, ist für Lars ein Prozess des Lebens.

    Sie hatten sich Kinder gewünscht. Allerdings erst seit kurzem. Rhea brauchte Zeit, um ihren Platz zu finden. Um herauszufinden, ob sie ihre amerikanische Seele der norwegischen Matrix aufpfropfen könne. Als ihr dann die Pille ausging, holte sie sich einfach kein neues Rezept mehr. Sie kann sich noch an den Tag erinnern. Es war ein Samstag im Dezember, kurz vor Weihnachten, aber schon nach Chanukka. Es muss an einem der dunkelsten Tage des Jahres gewesen sein, doch in ihrer Wohnung verbreiteten ein Weihnachtsbaum und eine Menora warmen Glanz. Zum Spaß zählten sie sinnliche Erinnerungen an Weihnachtsfeste der Vergangenheit auf.
    Nelken. Zimt. Tannenduft. Marzipan.
    «Nein, kein Marzipan.»
    «Bei uns sind die Marzipanriegel riesig», sagte Lars, «und mit Schokolade umhüllt.»
    «Wer ist dran?»
    «Du.»
    Glocken. Kerzen. Apfelkuchen. Äpfel. Skiwachs …
    «Wirklich? Skiwachs? Hier auch. Das ist ja spannend!»
    «Ich verarsch dich gerade, Lars.»
    «Oh.»
    Drei Wörter hintereinander. Manchmal auch vier. Genauso viel hatten sie gemeinsam. Eine solide
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