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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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erinnere ich mich an jenen Hunger, der niemals wiederkehren wird. Als ich einst der Liebhaber mit den blauesten Augen war, die sie je gesehen hatte. Blauer als die von Paul Newman. Dunkler als die von Frank Sinatra.
    Dieses Leben! Dieses Leben geht zu Ende ohne irgendeine Erklärung oder Entschuldigung, und jede Regung meiner Seele oder jeder Lichtstrahl, der durch eine Wolke fällt, könnte das Ende bedeuten.
    Dieses Leben war ein plötzlicher, tragischer Traum. Er packte mich in den frühen Morgenstunden eines Samstagmorgens, kurz bevor der Sonnenaufgang im Spiegel ihres Toilettentisches zu strahlen begann und mich sprachlos zurückließ, während die Welt in Weiß aufging.
    Und selbst wenn sie es tatsächlich wissen wollen, wer könnte es ihnen erzählen?

2. Kapitel
    Zu einer vollkommen unchristlichen Zeit steht Sheldon nackt im Badezimmer ihrer Wohnung in Tøyen. Rhea und Lars sind aus irgendeinem Grund ausgegangen. Wortlos haben sie das Haus mitten in der Nacht verlassen und sind schon seit Stunden fort.
    Das Licht ist aus, es ist dunkel. Er stützt sich mit einer Hand an den kalten Fliesen über der Toilette ab und zielt mit der anderen Hand, so gut es geht. Er wartet, bis seine Prostata sich beiseiteschiebt, damit er endlich ungestört Wasser lassen und sich dann wieder rasch ins Bett verziehen kann, wo er hingehört. Das verringert die Gefahr, sich nach einem plötzlichen Herztod noch immer mit dem Penis in der Hand von ein paar zwanzigjährigen Sanis auf dem Boden auffinden lassen zu müssen, die mit großen Augen seine Beschneidung und sein Pech zur Kenntnis nehmen.
    Es liegt nicht nur am Alter, dass alles langsamer geht. Ein Mann und eine Frau streiten oben in der Wohnung in irgendeiner Balkansprache mit all ihrem Gezische und Gepolter. Könnte Albanisch sein. Vielleicht auch nicht. Er hat keine Ahnung. Es klingt bösartig, antisemitisch, kommunistisch, bäuerlich, faschistisch und korrupt, alles zugleich. Jedes Phonem, jede Verschleifung und Intonation klingt bitter. Der Streit ist laut, und alles, was unverständlich darin mitschwingt, verursacht eine Art urtümliche Abwehrhaltung seiner Eingeweide.
    Sheldon klopft ein paarmal kraftlos gegen die Wand.
    Er muss an eine Kritzelei in der Männerlatrine während der Grundausbildung denken: «Alte Scharfschützen sterben nicht, sie bleiben immer geladen.»
    Sheldon schlurft zurück ins Bett, zieht sich die Daunendecke über die Schultern und lauscht, wie das Gekeife der Frau in Schluchzen übergeht. Schließlich versinkt er in einem oberflächlichen Schlaf.

    Als er aufwacht, ist – wie erwartet – Sonntag. Licht strömt herein. An der Tür steht ein großer Mann, der eindeutig kein Koreaner ist.
    «Hey, Sheldon? Hi! Ich bin’s, Lars. Guten Morgen!»
    Sheldon reibt sich das Gesicht und sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach sieben.
    «Hallo, Lars.»
    «Hast du gut geschlafen?»
    «Wo zum Teufel habt ihr beide gesteckt?»
    «Erklären wir dir gleich beim Frühstück.»
    «Euer Nachbar ist ein Faschist vom Balkan.»
    «Ach wirklich?»
    Sheldon starrt finster vor sich hin.
    «Wir hauen gerade Eier in die Pfanne. Kommst du?»
    «Ihr habt es auch gehört, ja? Es war keine Halluzination?»
    «Komm, lass uns frühstücken.»

    Die Wohnung befindet sich in einer kleinen Seitenstraße der Sars’ gate in der Nähe des Tøyenparken. Es ist ein Backsteingebäude mit breiten, naturbelassenen Dielenböden. Auf Sheldon wirkt es ein wenig wie ein New Yorker Loft, weil Lars’ Vater die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer und die zwischen Wohnzimmer und Esszimmer rausgerissen hat, um einen weiten, offenen hellen Raum zu schaffen. Von dem jetzt zusammengelegten Hauptraum geht ein riesiges Schlafzimmer ab, und am Fuß einer kurzen Treppe liegt ein weiteres, kleineres, in dem Sheldon haust.
    Unfähig, dem Tag noch länger aus dem Weg zu gehen, steht er auf, schlüpft in einen Morgenmantel und Pantoffeln und schlurft ins Wohnzimmer, das im frühen Morgenlicht glüht wie im Schein einer Verhörlampe. Sheldon kennt das, und er ist gewappnet. Das norwegische Sommerlicht ist daran schuld. Die Lösung ist eine Fliegerbrille mit goldumrandeten Gläsern, die er aus der Tasche zieht und aufsetzt.
    Nachdem er jetzt etwas sieht, geht er auf den Frühstückstisch zu, auf dem Ziegenkäse, eine Reihe von Produkten aus getrocknetem Schweinefleisch, Orangensaft, etwas gehackte Leber, Lachs, Butter und ein frischgebackenes Brot stehen, das sie gerade im 7 -Eleven um die Ecke geholt
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