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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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    TEIL I Der 59. Breitengrad
    1. Kapitel
    Es ist Sommer, ein strahlend heller Tag. Sheldon Horowitz thront auf einem klappbaren Regiestuhl hoch über der Picknickdecke und außer Reichweite des Essens in einem schattigen Eckchen des Osloer Frogner Parks. Auf dem Pappteller in seinem Schoß liegt ein angenagtes Kotelett-Sandwich, das ihm nicht schmeckt. Mit dem rechten Zeigefinger spielt er mit den Kondenstropfen auf seiner Bierflasche, an der er ein paarmal genippt, dann aber das Interesse verloren hat. Seine Füße pendeln hin und her wie die eines Schuljungen, aber jetzt, mit zweiundachtzig, pendeln sie langsamer. Der Bogen, den sie beschreiben, ist kleiner. Rhea und Lars gegenüber würde er das nicht zugeben – niemals, natürlich nicht –, aber Sheldon fragt sich die ganze Zeit, was zum Teufel er hier macht und was er dagegen unternehmen kann, bevor er irgendwann aufhört, sich das zu fragen.
    Sheldon sitzt eine Armeslänge entfernt von seiner Enkelin Rhea und ihrem neuen Ehemann Lars, der gerade einen tiefen Zug aus seiner Bierflasche nimmt und so fröhlich, so freundlich und überschwänglich wirkt, dass Sheldon ihm am liebsten den Hotdog aus der Hand reißen und in die Nase stopfen würde. Rhea, die heute seltsam blass aussieht, würde dies vermutlich schlecht aufnehmen und Sheldon zu weiteren
Integrationsfördernden Ausflügen
verdonnern («damit du dich einlebst»), und wäre die Welt tatsächlich gerecht, würde Sheldon so etwas nicht zugemutet werden, ebenso wenig wie Lars das Hotdog-Manöver. Aber Rhea hatte ja die tolle Idee gehabt, von New York nach Norwegen zu ziehen, und Sheldon – verwitwet, alt, ungeduldig, knurrig – las damals in Lars’ Miene eine Spur von Schadenfreude hinein.
    Nichts von alldem war gerecht.
    «Weißt du, weshalb Hotdogs Hotdogs heißen?», sagt Sheldon laut und mit gebieterischer Pose. Hätte er einen Gehstock, er würde ihn jetzt schwingen, aber so weit ist es mit ihm noch nicht gekommen.
    Lars schaut aufmerksam zu ihm auf, während Rhea einen genervten Seufzer ausstößt.
    «Erster Weltkrieg. Wir waren böse auf die Deutschen und haben sie bestraft, indem wir uns neue Bezeichnungen für ihr Essen ausgedacht haben. Na ja, besser als der Krieg gegen den Terror. Wir sind böse auf die Terroristen und bestrafen die Franzosen, indem wir unser eigenes Essen umbenennen.»
    «Wie meinst du das?», fragt Lars.
    Sheldon sieht, wie Rhea ihrem Mann aufs Bein tippt, die Augenbrauen hochzieht und ihm mit grimmigem Blick zu verstehen gibt, Anstachelungen zu dieser Art von Tiraden doch bitte zu unterlassen, diese Ermutigung zum Abschweifen in die Vergangenheit. Alles, was zu der heiß diskutierten Altersdemenz beitragen könnte.
    Sheldon hätte das nicht mitbekommen dürfen, tut es aber doch und redet sich in Rage.
    «Freedom fries! Ich rede von den Freiheitsfritten. Au revoir, Pommes frites, hello Freedom fries! Diesen Schwachsinn hat doch tatsächlich der Kongress ausgeheckt! Und da hält meine Enkelin mich für denjenigen, der den Verstand verliert. Lass dir mal eins gesagt sein, junge Dame: Nicht bei mir ist eine Schraube locker, bei den anderen rappelt’s im Karton!»
    Sheldon lässt den Blick über den Park schweifen. Hier lassen sich keine wildfremden Menschen treiben, wie man das aus jeder beliebigen amerikanischen Großstadt kennt, jene Art von Leuten, die einem nicht nur persönlich, sondern die sich auch untereinander fremd sind. Er ist hier unter lauter hochgewachsenen, gleich aussehenden, lächelnden Gutmenschen, die sich alle kennen und dieselben generationenübergreifenden Klamotten tragen. Und sosehr er sich auch bemüht, er findet einfach keinen Draht zu ihnen.
    Rhea. Der Name einer Titanin. Tochter des Uranus und der Gaia, Himmel und Erde, Frau des Chronos, Göttermutter. Zeus
himself
nährte sich an ihren Brüsten, und sie gebar die heute bekannte Welt. Sheldons Sohn Saul – lang schon unter der Erde – nannte sie so, um sie über die Banalität zu erheben, die sein Leben in Vietnam bestimmt hatte, 73 / 74 . Er war für einen Monat nach Hause gekommen, um sich von seinem Einsatz bei der Riverine Force zu erholen, dann aber zu einer zweiten Tour aufgebrochen. Es war im September. Die Fronturlauber waren auf dem Hudson und in den Berkshires unterwegs. Mabel zufolge – auch sie bereits verschieden, damals aber in diese Dinge eingeweiht – schliefen Saul und seine Freundin während dieser Zeit nur ein einziges Mal miteinander, und dabei wurde
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