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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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Rhea gezeugt. Am nächsten Morgen hatte Saul ein Gespräch mit Sheldon, das beide für immer veränderte, und dann ging er wieder nach Vietnam, wo eine Sprengfalle ihm zwei Monate nach seiner Landung die Beine wegfetzte, als er gerade im Rahmen einer routinemäßigen Rettungsaktion auf der Suche nach einem abgeschossenen Piloten war. Saul verblutete im Boot auf dem Weg ins Lazarett.
    «Gib ihr den Namen
Rhea
», schrieb Saul in seinem letzten Brief aus Saigon, als Saigon noch Saigon und Saul noch Saul war. Vielleicht war ihm ja eingefallen, was er in der Schule über Mythologie gelernt hatte, und sie trug ihren Namen ganz zu Recht. Vielleicht hatte er sich auch in die dem Untergang geweihte Figur aus Stanisław Lems Buch verliebt, das er unter der Wolldecke las, während die anderen Soldaten in den Schlaf gesunken waren.
    Es bedurfte eines polnischen Autors, um diesen amerikanischen Juden zu inspirieren, der seine Tochter nach einem griechischen Titanenspross benannte und schließlich von einer vietnamesischen Mine getötet wurde, weil er seinen Vater hatte zufriedenstellen wollen, einen ehemaligen Marine und Scharfschützen im Koreakrieg, der mit Sicherheit auch jetzt noch, in der Wildnis Skandinaviens, von Nordkoreanern verfolgt wird, selbst hier, im Grün des Frogner Parks an einem sonnigen Julitag, wo so wenig Zeit bleibt, um all das zu büßen, was er getan hat.
    Rhea. Hier bedeutet es nichts. Es ist das schwedische Wort für Schlussverkauf. So leicht ist der ganze Zauber dahin.

    «Papa?», fragt Rhea. So nennt sie ihren Großvater.
    «Was?»
    «Und, was sagst du?»
    «Wozu?»
    «Du weißt schon. Die Gegend. Die Umgebung. Hier ziehen wir hin, wenn wir unser Haus in Tøyen verkauft haben. Ist natürlich nicht ganz mit Gramercy Park zu vergleichen, schon klar.»
    Sheldon antwortet nicht, daher zieht sie die Augenbrauen hoch und hebt die Hände. «Oslo», hilft sie ihm auf die Sprünge. «Norwegen. Das Licht. Dieses Leben hier.»
    «Dieses Leben hier? Ich soll dir sagen, was ich von diesem Leben halte?»
    Lars schweigt. Sheldon schaut zu ihm hinüber, hofft auf Unterstützung, doch Lars ist abwesend.
    Trotz Blickkontakt kommt es in diesem Augenblick zu keiner Aktivierung seiner mentalen Fähigkeiten. Lars ist gefesselt von der ihm fremden kulturellen Performance zwischen Großvater und Enkelin. Ein Duell in Worten, für das er schlecht gerüstet ist und das man besser nicht unterbricht.
    Und doch ist da auch Mitleid. Auf seinem Gesicht zeichnet sich einer der wenigen allen Menschen weltweit verständlichen Ausdrücke ab. Er lautet:
Ich hab hier nur eingeheiratet, also lasst mich in Ruhe mit eurem Kram
. Das kommt Sheldon sogar ein wenig vertraut vor. Zugleich ist es aber auch typisch norwegisch. Eine vollkommen wertfreie Haltung, die ihm sofort auf die Nerven geht.
    Sheldon schaut wieder zu Rhea hinüber, zu dieser Frau, die zu heiraten Lars gelungen ist. Ihr Haar ist rabenschwarz und zu einem seidigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre blauen Augen blitzen wie das Japanische Meer vor der Schlacht.
    Sheldon findet, dass ihr Blick seit der Schwangerschaft tiefgründiger geworden ist.
    Dieses Leben?
Wenn er jetzt die Hand nach ihrem Gesicht ausstreckte, mit den Fingern über ihre Wangenknochen führe und ihr mit dem Daumen die von einem heftigen Windstoß hervorgelockte Träne abwischte, würde er bestimmt in Schluchzen ausbrechen, sie an sich drücken und ihren Kopf an seine Schulter pressen. In Rhea wächst
neues
Leben. Allein darauf kommt es an.
    Sie wartet auf eine Antwort auf ihre Frage, aber die bleibt aus. Er starrt sie an. Hat er die Frage bereits vergessen? Sie wirkt enttäuscht.
    Die Sonne geht erst nach zehn unter. Überall sind Kinder, und die Leute sind früh von der Arbeit hergekommen, um den vor ihnen liegenden Sommer zu genießen, als Ausgleich für die Dunkelheit der Wintermonate. Eltern kaufen belegte Brote und verfüttern sie in kleinen Stückchen an ihre Kinder, während Väter Plastikfläschchen zu teuren Kinderwagen mit exotischen Namen bringen.
    Quinny. Stokke. Bugaboo. Peg Perego. Maxi-Cosi.
    Dieses Leben? Sie sollte eigentlich wissen, dass dieses Leben das Produkt so vieler Tode ist. Mario. Bill. Ihre Großmutter Mabel, die gerade erst vor acht Monaten gestorben ist und damit Sheldons Umzug hierher eingeleitet hat.
    Was durch Sauls Tod eingeleitet wurde, lässt sich nicht so leicht berechnen.

    Mabels Beerdigung fand in New York statt. Sie stammten aus unterschiedlichen Ecken des Landes
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