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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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nie betrachtet.»
    Sheldon zieht die Brauen hoch und breitet die Handflächen aus, als wolle er fragen, was man denn sonst von zwei Kanonen namens Moses und Aron halten soll, die in Norwegen ein Nazischiff versenkten.
    Lars lenkt ein. «Ja, Norwegen hat jüdische Kanonen für die Nazijagd.»
    «Aber Moses und Aron sind nicht hier.»
    «Genau. Sie sind im Sommerhaus.»
    «Das ist okay. Bestimmt können wir einen Messerkampf gewinnen. Was versteht die Balkanmafia im Vergleich zu uns dreien schon von Messerkämpfen?»
    «Das Ferienhaus ist in der Nähe der schwedischen Grenze, weißt du. Der norwegische Widerstand war dort aktiv. Wir nannten sie die Jungs in den Wäldern. Mein Vater hat gesehen, wie mein Großvater sie hinten an der Sauna versteckte. Sie machten sich Büroklammern ans Revers. Es war ein Akt der Auflehnung gegen die Besatzung.»
    Sheldon nickt. «Ganz schön tollkühn, diese Operation Büroklammer. Aber am Ende hat das den Nazis wohl das Genick gebrochen, wie? Wer könnte auch eine derartige Provokation aushalten?»
    «Papa», zischte Rhea, «ich glaube, du solltest mal duschen gehen, farblich zueinander passende Kleidung anziehen – vielleicht sogar Unterhosen –, und dann können wir durch den Hintereingang nach draußen gehen.»
    Sheldon wechselt das Thema.
    «Weißt du, weshalb ich diese Uhr hier trage?»
    «Damit du sagen kannst, wie spät es ist?», erwidert Rhea und lässt sich auf das Ablenkungsmanöver ein.
    «Nein, das ist vielleicht der Grund, weshalb ich
generell
eine Uhr trage. Meine Frage zielt darauf ab, weshalb ich
genau diese
Uhr trage. Ich habe immer eine mit dem Herzen deines Vaters darin getragen. Was das heißt, erkläre ich dir eines Tages. Aber dann habe ich beschlossen – wegen deiner Neuigkeit und meines Umzugs ins Land des Ewigen Eises –, es mal ein bisschen krachen zu lassen und mir eine neue zuzulegen. Und weißt du, was ich mir gekauft habe? Nein, keine Omega. Keine Rolex. Ich sage es dir: Eine
J. S. Watch and Company
.
    Noch nie gehört? Ich bis dahin auch nicht. Hab ich zufällig aufgeschnappt. Die Firma sitzt in Island. Zwischen alter und neuer Welt. Vier Jungs am Fuß eines Vulkans mitten im Atlantik, die versuchen, Geld zu machen, indem sie exquisite wunderschöne Uhren fabrizieren, weil sie Uhren lieben. Weil sie verstanden haben, dass Uhrmachen ein bejahender, kreativer Akt ist, der Technik und Schönheit vereint, als Antwort auf eine gnadenlose Struktur aus Funktionalität und Form. Wie das Leben selbst, als Antwort auf den Tod. Außerdem ist das ein echter Hingucker! Schau sie dir an!»
    «Raus. Wir gehen raus.»
    «Ich hab keinen Haustürschlüssel. Ich bin nicht autonom.»
    «Wir lassen dir einen nachmachen. Was noch?»
    «Als dein Vater klein war, hat er irgendwann beschlossen, keine zueinander passende Kleidung mehr zu tragen. Es war ein kleiner rebellischer Akt gegenüber seinem Vater, dem alten Unterdrücker. Also kauften wir ihm nur noch Levi’s-Jeans, die nach einem Stamm Israels benannt sind und wunderbarerweise zu allem passen. Batik, Karos, Streifen, Camouflage. Eine Levi’s ist einfach unverwüstlich. Damit hab ich deinem Vater ein Schnippchen geschlagen. Zum Dank bekamen wir schließlich ein Kind ohne jegliches Gespür für Mode.»
    «Ich glaube, das Frühstück ist beendet.»
    «Er ist in dem Buch drin, weißt du.»
    «Ich weiß, Papa.»
    «Und deine Großmutter auch.»
    «Ich weiß.»
    «Und jede Menge wütender Europäer.»
    «Aha.»
    «Und ein Hund.»
    «Klar.»
    Das Buch. «Das Buch» war Sheldons einziger Nachweis, es zu etwas gebracht zu haben. 1955 , noch immer ein wenig orientierungslos nach dem Krieg und auch nicht groß auf der Suche nach irgendetwas, begeisterte er sich plötzlich für die Idee, Fotograf zu werden, und siehe da, er wurde einer, und zwar ein bekannter. Lange vor dem Hype um Coffee-Table-Books beschloss Sheldon, auf Reisen zu gehen und Porträts zu machen. Obwohl er sehr geschickt war im Umgang mit der Kamera, mangelte es ihm an guten Umgangsformen, was insofern ein Problem darstellte, als Porträtfotografie ohne die Einwilligung der Modelle schwierig ist.
    Gerechtigkeitshalber muss allerdings gesagt werden, dass er aus dieser Not eine Tugend machte, indem er sich einfach auf
unwillige Modelle
spezialisierte. Was ihm ohnehin entgegenkam. Am Ende hieß der Arbeitstitel des Projekts «Fotos von widerwilligen Modellen».
    1956 hatte Sheldon genau sechshundertdreizehn Fotos aus zwölf Städten in fünf Kontinenten zusammen,
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