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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben
Autoren: Derek B. Miller
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allesamt von Leuten, die eine Stinkwut auf ihn hatten. Zweihundert schafften es ins Buch. Der Rest blieb in Kartons, die er versteckt aufbewahrte und die niemand zu sehen bekam. Erst als Saul einmal das Gespräch darauf brachte, setzten Mutmaßungen ein, es müsse noch mehr Fotos geben. Doch Sheldon hielt sie unter Verschluss.
    In dem Buch schrien Frauen, schüttelten Männer drohend die Faust, wurden Kinder hysterisch, fletschten sogar Hunde die Zähne mitten im Sprung. In seinem speziellen unverblümten Sarkasmus hieß das Buch – das einen sehr raffinierten Verlag und ein ziemlich großes Publikum fand – einfach nur «Was?!»
    In einem kurzen Interview mit Harper’s wurde er gefragt, wie er die Leute so sehr zur Weißglut gebracht habe.
    «Ich habe getan, was mir gerade so einfiel», hatte er erwidert. «Ich zog Leute an den Haaren, trickste Kinder aus, triezte Hunde, schlug jemandem die Eiswaffel aus der Hand, fuhr alten Leuten über den Mund, ging, ohne zu zahlen, schnappte Taxis weg, spielte den Klugscheißer, machte mich mit dem Gepäck anderer Leute auf den Weg, beleidigte Ehefrauen oder beleidigte Kellner, drängelte mich in der Schlange vor, gab falsche Bestellungen auf, schnippte Hüte vom Kopf und hielt für niemanden den Fahrstuhl an. Es war das beste Jahr meines Lebens!»
    Saul war auf Seite eins, als Zweijähriger. Sheldon hatte ihm gerade seine Süßigkeiten weggeschnappt und dann auch noch ein Foto mit Blitz geschossen, was das Fass zum Überlaufen brachte. Mabel geriet darüber so außer sich, dass sie sich einen Ehrenplatz auf Seite zwei sicherte.
    In Rheas Wohnzimmer steht ein Exemplar des Buches. Sie hat es Lars gezeigt. Ihrem gemeinsamen Lieblingsfoto dient Doisneaus «Kuss vor dem Rathaus» als Vorlage, das kurz zuvor im
Life
-Magazin abgedruckt worden war. Sheldon hatte das Kultpotenzial des Fotos erahnt, das einen zeitlosen Moment in einer Zeit allgemeinen Umbruchs einfängt. In Sheldons Version werden die beiden Liebenden an einem Kuss gehindert. Sie klammern sich an das eiserne Geländer einer Brücke, und die Frau schleudert eine Weinflasche in Richtung Kamera (also eigentlich in Richtung Sheldon). Es war ein herrlicher Tag, daher hatte er eine niedrige Blende verwendet, um große Tiefenschärfe zu erzeugen und so das meiste der Szene im Fokus zu halten. Das Schwarzweißfoto – eine wunderbare Bildkomposition – fing nicht nur das zornige Gesicht der Frau ein (sie hat die Hand noch vom Wurf ausgestreckt, ihr Gesicht ist verzerrt, der Körper leicht über das Geländer gebeugt, als wolle sie sich selbst auf die Kamera stürzen), sondern auch den Jahrgang der fliegenden Flasche (ein 1948 er Château Beychevelle, St. Julien, Bordeaux). Es war wirklich ein wundervolles Foto. 1994 , als Doisneau zugab, dass sein Foto gestellt war (weil das Mädchen darauf vierzig Jahre später Geld dafür verlangte und ihm eine Klage androhte, wodurch der Fotograf zu dem Eingeständnis gezwungen wurde, dass er den Kuss gekauft hatte, und der Zauber des Augenblicks dahin war), flippte Sheldon völlig aus und erklärte sich selbst zum Originalgenie.
    «Das Original war ein Fake, und das Fake war ein Original!» 1995 wurde sein eigenes Foto wiederveröffentlicht, verschaffte ihm eine Woche lang Berühmtheit und den Vorwand, sich bei Familienzusammenkünften aufzuführen wie die Axt im Walde. An so etwas hatte Sheldon immer unermessliches Vergnügen.
    «Zieh dich an. Wir gehen jetzt spazieren», sagt Rhea.
    «Geht ihr schon mal vor. Ich komme nach.»
    Lars schaut Rhea an, die seinen Blick wissend erwidert.
    «Papa, wir wollen dir etwas über gestern Nacht erzählen. Komm mit.»
    Sheldon sieht zu Lars hinüber, der mit Unschuldsmiene einen Dillhering auf einer Scheibe Roggenbrot platziert.
    «Ihr wollt nicht, dass ich allein rausgehe. Ihr wollt mich überwachen. Deshalb wollt ihr mir auch dieses Handy aufdrängen. Aber ich weigere mich.»
    «Wir sind gern in deiner Gesellschaft.»
    «Deine Großmutter hatte es besser drauf, mich zu manipulieren als ihr beiden. Solange ihr euch nicht ein bisschen mehr anstrengt, werde ich nicht nachgeben.»
    «Okay, na schön, ich gehe jetzt nach draußen. Wer kommt mit?»
    Lars hebt die Hand.
    «Lars! Großartig! Sonst noch jemand?» Sie lässt den Blick durch den Raum schweifen. «Sonst niemand?»
    «Ich habe etwas vor», sagt Sheldon.
    «Zum Beispiel?»
    «Private Dinge.»
    «Das glaube ich dir nicht.»
    «Und jetzt?»
    «Es ist ein schöner Tag, und ich möchte, dass du ein
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