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Im Bann der Liebe

Im Bann der Liebe

Titel: Im Bann der Liebe
Autoren: Linda Lael Miller
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    1906
     
    Als auf ihr Klingeln niemand antwortete, nahm Susannah McKittrick all ihren Mut zusammen und betrat kühn Aubrey Fairgrieves herrschaftliches Haus auf einem der sieben Hügel Seattles. Mit gestrafften Schultern, kerzengeradem Rücken und ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen, stieg sie die große Treppe empor, durchschritt die eindrucksvolle Halle und entschied sich für einen bescheidenen, aber angemessenen Raum am Ende des Flurs.
    Das einzige kleine Fenster gab den Blick auf die schneebedeckten Berge und das unruhige, schmutzig graue Wasser eines Sundes frei, der unter dem düsteren Oktoberhimmel lag. Ein ungepflegtes Stück Garten lag vor ihr, an den sich, nur durch eine Mauer getrennt, der Friedhof anschloss. Die Gräber lagen unter einer Decke von Blättern, die in allen Farben des Herbstes schimmerten, und aus der vereinzelt Statuen und Holzkreuze hervorragten.
    Susannah fragte sich, welches davon wohl Julias Grab war, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Rasch riss sie sich zusammen und versuchte, an etwas Positiveres zu denken. Angesichts ihrer Erschöpfung und des Kummers in ihrem Herzen war das kein leichtes Unterfangen. Susannah hatte Nantucket noch an dem Tag verlassen, an dem Mr. Fairgrieves Telegramm mit der Todesnachricht gekommen war. Nun war sie halb verhungert, eine Fremde in einem fremden Land und wahrscheinlich ein unwillkommener Gast. Denn Julias Mann - jetzt Witwer - hatte sie nicht eingeladen, als Ersatzmutter für seine Tochter in sein Haus zu kommen. Das war ihre eigene Idee gewesen - und die Julias.
    Susannah blieb am Fenster stehen und betrachtete wieder die Berge, dann seufzte sie, streifte ihren staubigen Reisemantel ab und ließ ihn auf einen Stuhl fallen. Das Klima in Seattle war so ähnlich wie in Nantucket, dennoch vermisste sie ihre Heimat bereits schmerzlich. Ein weit entferntes Zuhause gewinnt im Auge des Betrachters, und hier war es leicht, die Einsamkeit der langen Winterabende und die wilden Atlantikstürme zu vergessen, die die Insel zu jeder Jahreszeit heimsuchten.
    Mit einem Ruck wandte Susannah sich ab, fest entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen, um Julias Tochter willen. Im Spiegel über dem Schreibtisch erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Sie war blond, grauäugig, weder schön noch hässlich und in ein praktisches braunes Kleid mit passender Haube gekleidet, dem nur ein schmaler Spitzensaum etwas Freundlichkeit verlieh. Alles, was sie trug, die Unterröcke eingeschlossen, war immer wieder sorgfältig geflickt worden, um halbwegs zu verbergen, dass die Sachen schon bessere Zeiten gesehen hatten. Auch wenn Susannah am Ende ihrer Kraft war, hielt ihre Würde sie weiter aufrecht.
    Sie band die Bänder ihrer Haube auf und setzte sie ab. Nach ihrem eigenen Urteil war sie eindeutig nicht so hübsch, wie Julia es gewesen war, auch wenn ihre Haut ungewöhnlich klar war und vor Gesundheit rosig schimmerte. Was ich jetzt brauche, sind ein heißes Bad, eine Mahlzeit und eine ruhige, lange Nacht, gestand sie sich seufzend ein. Aber ehe sie sich ihre Wünsche erfüllen durfte, gab es andere Dinge zu bedenken.
    Zuerst - ihr Herz schlug schneller - würde sie Julias Baby sehen, das nach ihr benannt werden sollte. Dann war es unvermeidlich, dass sie Aubrey Fairgrieve gegenübertrat, denn immerhin war es sein Haus, und das Kind, dieses kostbare Kind, war auch seines.
    Susannah ließ sich auf die Kante eines unbezogenen Eisenbettes sinken, überwältigt von der enormen Aufgabe, die auf sie wartete. Erneut ließ sie ihre Gedanken wandern.
    Julia, die im Grunde ihres Herzens eine Romantikerin gewesen war, hatte Aubrey in Boston kennen gelernt, wo sie als Gouvernante die Kinder eines seiner Freunde betreut hatte. Wenige Wochen nach der ersten unschuldigen Begegnung war sie mit dem Mann durchgebrannt, trotz der vielen Briefe Susannahs, in denen diese sie beschworen hatte, vorsichtig zu sein, sich Zeit zu lassen und das Ganze noch einmal gut zu überlegen.
    Nach der Hochzeit hatte Julia in ausführlichen Briefen ihren Ehemann in den höchsten Tönen gelobt. Er sei umwerfend attraktiv, hatte sie geschrieben, ein vitaler und witziger Mann, dreiunddreißig Jahre alt, mit einem netten Lächeln, spitzbübischen haselnussbraunen Augen und einer Fülle dunkler Locken. Sie fuhr fort, sein Äußeres und sein Wesen zu beschreiben - groß und schlank sei er, mit breiten Schultern und gestählten Muskeln von der harten Arbeit in dem Holzfällercamp, in dem
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