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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben
Autoren: Leonardo Padura
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sah sein Glas an und setzte dabei das gleiche Gesicht auf wie Carlos, so als wollte er sagen: Wieso ist das denn leer? Aber er sagte es nicht.
    »Ach, nichts, vergiss es.« Er winkte ab. Ihm ging durch den Kopf, dass er eines gar nicht schönen Tages nicht mehr mit dem Dünnen würde reden können, ihn »Bruder« nennen, »Bär«, »Tiger«, »Alter«, dass er ihm nicht mehr würde erklären können, dass es das Schwierigste auf der Welt war, zu leben.
    »Sag mal, du, wo hat der andere am Ende eigentlich den Koffer mit dem Geld gelassen?«
    »Er hat Schiss gekriegt und ihn ins Meer geworfen.«
    »Mit den ganzen Scheinen?«
    »Mit den ganzen Scheinen. Sagt er jedenfalls.«
    »So ’n Scheiß, was?«
    »So ’n Scheiß, ja. Hör mal, ich fühl mich ganz komisch. Erst wollte ich Rafael finden, tot oder lebendig, das war mir schon fast egal. Jetzt hab ich ihn gefunden, und ich würde ihn am liebsten wieder verschwinden lassen. Ich will nicht an ihn denken, aber ich krieg ihn einfach nicht aus dem Kopf. Und ich fürchte, das dauert noch ’ne ganze Weile … Wie Tamara sich wohl fühlt, hm?«
    »Komm, leg Musik auf«, schlug der Dünne vor, »jetzt kannst du Musik machen, wenn du willst.«
    »Was möchtest du hören?«
    »Die Beatles?«
    »Chicago?«
    »Formula V?«
    »Los Pasos?«
    »Credence?«
    »Okay, Credence.«
    Sie lauschten der satten Stimme von John Fogerty und den Gitarren von Credence Clearwater Revival.
    »Das ist immer noch die beste Version von Proud Mary.«
    »Kein Thema.«
    »Der singt wie ’n Schwarzer, hör dir das an.«
    »Scheiße, der singt wie ’n Gott.«
    »Kommt, Jungs, der Mensch lebt nicht von Musik allein«, rief Josefina von der Tür aus. »Wir essen.«
    Sie band sich die Schürze ab, und Mario Conde fragte sich, wie oft er diesen Lockruf der Wildnis wohl noch vernehmen würde, der sie drei um den außergewöhnlichen Tisch versammelte, den zu decken Josefina jeden Tag so große Anstrengung kostete. Ohne sie wird das Leben noch schwieriger werden, dachte er.
    »Welches Menü erwartet uns?«, fragte er und nahm seinen Platz hinter dem Rollstuhl ein.
    »Kabeljau auf baskische Art, Reis, polnische Suppe mit Champignons, verfeinert mit Mangold, Innereien vom Huhn in Tomatensoße, gebackene Bananenscheiben und gemischter Salat: Kopfsalat, Kresse und Radieschen.«
    »Wo hast du das alles her, Jose?«
    »Frag lieber nicht, Condesito. Kommt, gebt mir auch ’n Schluck Rum. Mir ist heute so danach, ich weiß nicht, irgendwie fühl ich mich glücklich.«
    »Für dich, Jose.« Mario schob sein Glas zu ihr rüber und dachte: Scheiße, wie lieb ich sie hab.
     
    Dies ist ein leeres Zimmer, sagte er laut und atmete den intensiven Geruch der Einsamkeit tief ein. Und das da ist ein leeres Bett, dachte er und betrachtete die geheimnisvollen Formen der zerwühlten Laken, die glatt zu streichen niemand sich die Mühe machte. Er knipste das Licht an, und die Einsamkeit sprang ihm in die Augen. Rufino drehte in dem runden Aquarium wie wild seine Runden. Werd mir nur nicht müde, Rufino, sagte er zu dem Kampffisch und begann sich auszuziehen. Er legte das Jackett über den Stuhl, warf das Hemd aufs Bett, legte die Pistole auf das Jackett, und nachdem er die Schuhe abgestreift hatte, zog er die Jeans aus und ließ sie auf dem Boden liegen.
    Er ging in die Küche und löffelte die letzten Kaffeereste, die er in einem Tütchen gefunden hatte, in die gusseiserne Kanne. Er spülte die Thermoskanne aus, nachdem er den abgestandenen Kaffee weggeschüttet hatte, den er am Morgen eines, wie ihm schien, lange vergangenen Tages dort vergessen hatte. Da entdeckte er in der dunklen Fensterscheibe sein Spiegelbild und nutzte die Gelegenheit, um wieder einmal den Beginn seiner Kahlköpfigkeit zu begutachten. Dann öffnete er das Fenster und sah in die nächtliche Stille hinaus. Es wäre eine ideale Nacht, dachte er, um sich unter die Straßenlaterne an der Ecke zu hocken und ein paar Partien Domino zu spielen, eingehüllt in einen schützenden Nebel aus billigem Rum. Nur dass sich seit langem schon niemand mehr, nicht mal in einer Nacht wie dieser, dort niederließ, um Domino zu spielen und billigen Rum zu trinken. Wir sind nicht mal mehr uns selbst ähnlich, dachte er, denn wir, die von früher, werden nie wieder dieselben sein. Er fragte sich, wann er wohl Tamara anrufen würde. Die Einsamkeit bringt mich um. Er tat Zucker in den Kaffee, goss sich eine riesige Morgentasse ein und zündete sich die unvermeidliche Zigarette
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