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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben
Autoren: Leonardo Padura
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gehen?«
    »Aber warum ich, Alter? Dir steht doch ’n Haufen Leute zur Verfügung«, hielt er dagegen und versuchte sich aufzurichten. Die schwammige Hirnmasse stieß gegen seine Stirn, und er musste die Augen schließen. Restübelkeit stieg aus seinem Magen auf, und ein stechender Schmerz zeigte ihm das dringende Bedürfnis zu urinieren an. Er biss die Zähne zusammen und tastete nach den Zigaretten auf dem Nachttisch.
    »Hör mal, Mario, ich hab nicht die Absicht, darüber abstimmen zu lassen. Weißt du, warum du dran glauben musst? Nun, weil ich es so will, darum. Also, reiß dich zusammen und steh auf!«
    »Du machst nur Spaß, oder?«
    »Hör auf, Mario … Ich bin schon mitten in der Arbeit, verstehst du?«, warnte die Stimme, und Mario verstand, dass er mitten in der Arbeit war. »Pass auf: Donnerstag, also am Ersten, wurde eine Vermisstenanzeige aufgegeben, einer der Chefs aus dem Industrieministerium ist verschwunden, verstehst du?«
    »Ich bemühe mich ja zu verstehen, ich schwörs dir.«
    »Dann bemüh dich weiter und schwör nicht leichtfertig. Die Ehefrau hat um neun Uhr abends Anzeige erstattet, wir haben eine landesweite Suche gestartet, aber der Mann bleibt verschwunden. An der Sache ist was faul. Du weißt, auf Kuba gehen Chefs im Range eines Vizeministers nicht einfach so spurlos verloren«, fügte der Alte in besorgtem Ton hinzu. Der andere, Mario, der es endlich geschafft hatte, sich auf die Bettkante zu setzen, versuchte die Situation aufzulockern: »In meiner Tasche ist er nicht, wirklich nicht.«
    »Mario, jetzt reichts!« Die Stimme war wieder die alte. »Der Fall liegt inzwischen bei uns, in einer Stunde erwarte ich dich hier. Wenn du erhöhten Blutdruck hast, gib dir ’ne Spritze und mach dich auf die Socken.«
    Er entdeckte das Zigarettenpäckchen auf dem Boden. Das erste freudige Ereignis an diesem Morgen. Das Päckchen war platt getreten und bot einen traurigen Anblick, doch er sah es voller Optimismus an. Er ließ sich von der Bettkante gleiten und setzte sich auf den Boden. Die jämmerliche Zigarette, die er mit zwei Fingern aus dem Päckchen fischte, kam ihm wie eine Belohnung für seine ungeheure Anstrengung vor.
    »Hast du Streichhölzer, Chef?«, fragte er ins Telefon.
    »Was soll das denn jetzt, Mario?«
    »Ach, nichts. Was rauchst du heute?«
    »Das errätst du nie!« Nun klang die Stimme zufrieden, genüsslich. »Eine Davidoff, Geschenk von meinem Schwiegersohn zum Jahreswechsel.«
    Den Rest konnte er sich ausmalen: Der Alte betrachtete das rippenlose Deckblatt seiner Havanna, atmete den feinen Rauch ein und passte auf, dass die eineinhalb Zentimeter, die den vollkommenen Rauchgenuss garantierten, nicht abfielen. Gott sei Dank, dachte Mario.
    »Heb eine für mich auf, ja?«
    »Ich denke, du rauchst keine Zigarren. Kauf dir an der Ecke ein Päckchen Populares und komm her.«
    »Ja, ja, schon gut … Übrigens, wie heißt der Mann?«
    »Warte … Ah ja, Rafael Morín Rodríguez, Leiter der Import-Export-Abteilung im Industrieministerium.«
    »Moment mal«, sagte Mario und sah auf die unappetitliche Zigarette, die zwischen seinen Fingern zitterte, was nicht unbedingt nur auf den Alkohol zurückzuführen war. »Ich glaub, ich hab dich nicht richtig verstanden. Rafael, und wie weiter?«
    »Rafael Morín Rodríguez. Hast dus notiert? Gut! Dir bleiben jetzt noch genau fünfundfünfzig Minuten, dann bist du in der Zentrale«, sagte der Alte und legte auf.
    Hinterhältig wie zuvor die Übelkeit stieg ein Rülpser auf und ließ einen säuerlichen Rumgeschmack im Mund des Ermittlungsbeamten Teniente Mario Conde zurück. Auf dem Boden, neben der Unterhose, sah er sein Hemd liegen. Langsam kniete er sich hin und kroch auf allen Vieren zu der Stelle, bis er einen Armel zu fassen kriegte. Er grinste. In der Brusttasche fand er Streichhölzer. Endlich konnte er die Zigarette, die zwischen seinen Lippen feucht geworden war, anzünden. Er inhalierte den Rauch, und nach der rettenden Entdeckung der zerdrückten Zigarette war dies das zweite Glücksgefühl des Tages, der mit Maschinengewehrfeuer, mit der Stimme des Alten und einem fast vergessenen Namen begonnen hatte. Rafael Morín Rodríguez, dachte er. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Bettkante und stellte sich auf die Beine. Dabei wanderten seine Augen zum Regal, auf dem Rufino, der Kampffisch, mit morgendlicher Energie seine endlosen Runden in dem runden Aquarium drehte. »Was ist passiert, Rufo?«, murmelte er und besah sich die
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