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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich
Autoren: Peer Steinbrück
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Vorwort
    Wir wollen nicht immer so genau wissen, was wir eigentlich wissen. Wir würden dann nämlich zu der Erkenntnis gelangen, dass wir Selbsttäuschungen unterliegen und Irrtümern folgen. Wir wären zu Korrekturen gezwungen, die darauf hinauslaufen, dass wir uns selbst ändern und viele Änderungen vornehmen müssen. Dann stehen Gewissheiten und Überzeugungen auf dem Prüfstand. Das führt auf einen Weg, der steinig und kurvenreich ist statt bequem und ausgeleuchtet, wie wir es gern haben. Der Abschied von falschen Gewissheiten ist schmerzlich, Korrekturen sind anstrengend. Deshalb blenden wir unser Wissen aus und lassen uns lieber unterhalten. »Denn sie wissen nicht, was sie tun« hieß ein berühmter Film mit James Dean. Der Film über uns müsste heißen: »Denn sie tun nicht, was sie wissen«.
    Das vor uns liegende Jahrzehnt garantiert Deutschland keineswegs jenes Maß an Wohlstand und sozialer Stabilität, das - von gelegentlichen Eintrübungen abgesehen - die ersten 60 Jahre der Bundesrepublik Deutschland zu einer beispiellosen Erfolgsgeschichte machte. Alle Anzeichen für Risse in unserem ökonomischen und finanziellen Fundament ignorierend, gehen wir unbeirrt davon aus, dass Deutschland international auch weiterhin in der Champions League spielen und sogar gestärkt aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgehen kann. Im Wirtschaftswachstum sehen wir nach wie vor das große Zukunftsversprechen, den Alleskleber für alle aufplatzenden Probleme.
    Noch erscheint uns die Vorstellung abwegig, dass der soziale Kitt brüchig werden könnte, dass gesellschaftliche Fliehkräfte den sozialen Frieden aushebeln und sogar die demokratische Substanz unseres Gemeinwesens angreifen könnten. Die tief in unserem Bewusstsein verwurzelte wohlfahrtsstaatliche Mentalität zeigt sich immer noch unbeeindruckt von dem massiven Druck, der auf die Finanzgrundlagen des Sozialstaates einwirkt. Zwar verfolgen wir atemlos, wie sich 1 Milliarde zur kleinsten Recheneinheit der Republik entwickelt und wie die Fieberkurven von Märkten ausschlagen, aber beim Blick aus dem Fenster erscheint ansonsten alles sicher. Die Rente sowieso.
    Tatsächlich ist nichts in Stein gemeißelt. Es steht nicht geschrieben, dass wir uns in zehn Jahren in derselben verhältnismäßig guten Verfassung wiederfinden werden wie heute. Deutschland sieht sich mit einem tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Wandel konfrontiert, der bisherige Gewissheiten wegfegt und die Statik unseres Hauses erschüttern kann. Man kann davor die Augen verschließen und sich in einer Stabilitätsillusion wähnen. Aber damit erhöht sich nur die Rechnung, die am Ende so oder so fällig wird. Je länger wir die Realität verweigern, desto höher werden aber nicht nur die Anpassungskosten. Je länger wir uns unseren Selbsttäuschungen überlassen, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf der Leiter der Wohlstandsregionen absteigen.
    Mit der Niederschrift zu diesem Buch begann ich zwei Monate nach der Bundestagswahl vom 27. September 2009, mit der die große Koalition und damit auch meine Amtszeit als Bundesminister der Finanzen beendet wurde. Seit Ende Oktober 2009 werden wir von jener »Traumkoalition« regiert, die sich die Führung von CDU/CSU und die FDP seit vielen Jahren gewünscht hatten. Alle vier bis sechs Wochen erlebten wir einen sogenannten »Neustart«. Als ich die Arbeit am Manuskript Mitte Juli 2010 abschloss, hatte das schwarz-gelbe Bündnis diesen Begriff nach der schweißtreibenden Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten aus seinem Repertoire gestrichen.
    Unterm Strich ist kein Erinnerungsbuch mit autobiographischen Zügen. »Nur ein Idiot glaubt, dass er über sich die Wahrheit schreiben kann«, mahnte der Schriftsteller Eric Ambler mit britischem Understatement in seiner Autobiographie. Dieses Buch ist weder eine Bilanzierung meiner bisherigen politischen Tätigkeit noch gar eine Abrechnung mit dem politischen Gegner. Entgegen mancher Erwartung konzentriere ich mich auch nicht ausschließlich auf die Finanzkrise. Was ich über ihre Auswirkungen hinausgehend aufzeigen möchte, ist die Dringlichkeit der Situation, in der wir alle gemeinsam stehen.
    Unsere Lage wird geprägt von der Rasanz einer globalen ökonomischen Entwicklung, die zu erheblichen Verschiebungen im ökonomischen und politischen Gefüge der Welt führt (Kapitel II), in dem Europa auf der Suche nach seiner Rolle ist. Diese Entwicklung wird
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