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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben
Autoren: Leonardo Padura
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auf jeden Jungen kommen 1,8 Mädchen, eine komplette und die andere ohne Kopf oder mit nur einer Brust, sagte der Hasenzahn zu mir, vielleicht die da mit den Schlitzaugen, aber die ist aus dem Varona, die haben alle ihren festen Stecher. Und da schrillte die Klingel, und es öffneten sich an jenem 1. September 1972 die Tore der Oberstufenschule von La Víbora, wo ich so viel erleben sollte.
    Wir brannten buchstäblich darauf, in den Käfig zu kommen, wie das am ersten Schultag eben so ist. Als würde der Platz nicht für alle reichen, rannten einige sogar – die Mädchen, klar – auf den Schulhof, wo sich die verschiedenen Gruppen hinter nummerierten Holzpfählen aufstellen mussten. Ich gehörte zur Gruppe 5, in der sich aus unserem Viertel nur noch der Hasenzahn befand, ein Junge, mit dem ich seit der fünften Klasse zusammen war. Der Schulhof füllte sich. Noch nie hatte ich in einer einzigen Schule so viele Menschen gesehen, wirklich nicht, und ich fing an, mir die Mädchen in unserer Gruppe anzuschauen, um eine Vorauswahl zu treffen. Die Sonne brannte ganz schön, was ich aber nicht merkte, weil ich ja mit der Auswahl beschäftigt war. Dann sangen wir die Nationalhymne, und der Direktor stieg auf das Podium, das im überdachten Eingang aufgebaut war, im Schatten, und begann ins Mikrofon zu sprechen. Als Erstes schärfte er uns ein: Mädchen, der Rock bis über die Knie, mit dem vorgeschriebenen Saum, steht alles auf dem Zettel, den man Ihnen bei der Anmeldung gegeben hat; Jungs, Haare kurz geschnitten, Ohren frei, keine Koteletten, kein Schnäuzer; Mädchen, die Bluse in den Rock gesteckt, mit Kragen, ohne Verzierungen, steht alles auf dem Zettel … ; Jungs, normale Hosen, keine Röhrenhosen, keine mit weitem Schlag, das hier ist eine Schule und keine Modenschau; Mädchen, die Kniestrümpfe hochgezogen, nicht auf die Knöchel runtergerollt – wo es ihnen doch so gut stand, sogar die mit dünnen Beinen sahen damit besser aus –; Jungs, beim ersten Verstoß gegen die Schulordnung, schon bei einem einfachen Vergehen, ab vors Comité Militar, das hier ist eine Schule und nicht die Besserungsanstalt von Torrens; Mädchen und Jungs, Rauchen auf den Toiletten verboten, sowohl in den Pausen als auch zu allen übrigen Zeiten. Und dann noch einmal: Mädchen und Jungs … Die Sonne brannte mir jetzt überall auf den Körper, er stand ja im Schatten und sprach, und dann kündigte er den Vorsitzenden der Schülervertretung an.
    Er stieg aufs Podium und zeigte sein strahlendstes Lächeln. Colgate, hatte der Dünne wohl gedacht, aber da kannte ich den Dünnen, der hinter mir in der Reihe stand, noch nicht. Als Vorsitzender der Schülervertretung musste der auf dem Podium in der 12 oder 13 sein, später erfuhr ich, dass er in die 13 ging. Er war groß, fast blond, hatte sehr helle Augen – ein treuherziges, leicht verschwommenes Hellblau – und sah wie frisch gebadet, gekämmt, rasiert, parfumiert aus. Trotz der Entfernung und der Hitze machte er einen wachen und sehr selbstsicheren Eindruck, als er seine Rede begann, sich als »Rafael Morín Rodríguez« vorstellte, »Vorsitzender der Schülervertretung an der Oberstufe des Gymnasiums René O. Reiné und Mitglied des Comité Municipal de la Juventud.« Ich erinnere mich noch genau an ihn, an die Sonne, von der ich Kopfschmerzen bekam, und an die Gewissheit, dass der Junge auf dem Podium zum Führer geboren war. Er redete sehr lange.
     
    Die Aufzugtüren öffneten sich mit der Langsamkeit eines Vorhangs in einem kleinen Theater. Erst jetzt fiel dem Teniente auf, dass er für diese Szene keine Sonnenbrille benötigte. Seine Kopfschmerzen waren so gut wie weg, doch das vertraute Bild von Rafael Morín wühlte Erinnerungen in ihm auf, die er in den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses verschüttet geglaubt hatte. El Conde liebte es, sich zu erinnern. Einen »Erinnerungsfetischisten« nannte ihn der Dünne. In diesem Fall wäre ihm allerdings ein erfreulicherer Anlass zum Erinnern lieber gewesen. Er ging den Korridor entlang. Er hätte lieber geschlafen als gearbeitet. Vor dem Büro des Alten rückte er seine Pistole zurecht, die jeden Augenblick aus dem Hosenbund zu rutschen drohte.
    Maruchi, die Sekretärin des Alten, hatte ihren Platz verlassen. Sie frühstückte wohl, wie er aufgrund der Uhrzeit vermutete. Er klopfte an die Glasscheibe der Tür, öffnete und sah Mayor Antonio Rangel hinter seinem Schreibtisch sitzen. Der Alte hörte sich aufmerksam an, was ihm
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