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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben
Autoren: Leonardo Padura
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hinaus.
    Draußen auf der Straße tastete er in seiner Jackentasche nach der Zigarettenschachtel. Er hatte großen Durst. Während er noch eine Lücke im Straßenverkehr suchte, sah er auf der anderen Seite Miki Cara de Jeva. Er hätte gerne gewusst, warum das »Mädchengesicht« an der Totenwache teilnehmen wollte. Doch dann hatte er das Gefühl, dass es für heute genug war, und beschleunigte seinen Schritt. Als er in eine Seitenstraße einbog, summte er, ohne es zu wollen, Strawberry Fields forever …
     
    Der dünne Carlos sah sein Glas an, als verstünde er nicht, warum es leer war. So ein Gesicht machte er immer nach dem vierten oder fünften Glas. Mario Conde musste grinsen. Eine halbe Flasche Rum hatten sie bereits geleert, aber ihre Traurigkeit konnten sie damit nicht vertreiben. Der Dünne hatte seinen Freund gebeten, ihn zum Beerdigungsinstitut zu fahren, doch der hatte sich geweigert. Was hast du da zu suchen, du Aasgeier, schimpfte er mit ihm. Daraufhin hatte Carlos ihm verboten, den Kassettenrecorder anzustellen. Wie alle, die wissen, dass sie bald sterben müssen, hatte der Dünne Ehrfurcht vor dem Tod. Die beiden beschlossen, ihre schlechten Erinnerungen und die bösen und auch die traurigen Gedanken im Rum zu ertränken. Aber diese Scheißgedanken können schwimmen, dachte Mario.
    »Und wie gehts jetzt mit Tamara weiter, du?«, fragte der Dünne, als sein Glas wieder das richtige Gewicht hatte.
    »Weiß ich nicht, Bär, weiß ich nicht. Das kann nicht gut gehen. Ich hab Angst, mich zu verlieben.«
    »Warum, du, warum?«
    »Wegen dem, was danach kommt. Ich leide nicht gerne, also leide ich im Voraus, und damit hat sichs dann.«
    »Ich hab dir schon immer gesagt, du bist ein Leidwesen.«
    »Es ist nicht so einfach, wirklich nicht«, entgegnete Mario. Er trank sein Glas aus und stellte es auf das Tischchen. »Ich muss gehen, morgen soll der Abschlussbericht fertig sein.«
    »Du lässt mich mit einem halben Liter alleine? Und das Essen? Willst du, dass die arme Josefina böse wird? Nein, Bruder, nein, hinterher muss ich mir anhören, dass du nicht genug isst, dass du immer dünner wirst und ich der Böse bin, der dich zum Trinken verführt, und dass du besser auf dich aufpassen musst und wann du endlich ein nettes Mädchen heiratest und wann du Kinder kriegst. Das halte ich heute nicht mehr aus, du, mein Tag ist sowieso schon im Arsch.«
    Mario lachte, aber eigentlich war ihm zum Weinen zu Mute. Er sah über den Kopf seines Freundes hinweg auf die Wand, und da sah er das verblasste Poster von den Rolling Stones und Mick Jagger mit seinem Pferdegebiss; daneben das Foto, das am fünfzehnten Geburtstag der Schwester vom Hasenzahn aufgenommen worden war: Pancho lächelte, der Hasenzahn versuchte nicht zu lächeln, und der Dünne – für die Party extra sorgfältig gekämmt, den Pony, den er in der Schule scheiteln musste, bis über die Brauen und die halb geschlossenen Augen – hatte seinen Arm um die Schultern des wie üblich erschreckt dreinblickenden Mario Conde gelegt, Brüder seit immer und auf ewig. Er sah die Blechmedaillen, die der Dünne gesammelt hatte, als er noch dünn und Baseballspieler gewesen war; das fast nicht mehr zu sehende Etikett von Havana Club, das irgendjemand vor vielen Jahren bei einem viel beachteten Besäufnis auf den Spiegel geklebt hatte und das der Dünne für immer dort kleben lassen wollte. Es war auch eine traurige Wand.
    »Hast du dir mal überlegt, Dünner, warum wir Freunde sind?«
    »Weil ich dir in der Oberstufe mal ein Messer ausgeliehen habe. Hör mal, du, hör auf zu grübeln, das Leben ist, wie es ist, scheiß was drauf!«
    »Es könnte aber auch anders sein.«
    »Dummes Zeug, Alter, alles dummes Zeug. Das sind Ammenmärchen. Lass mich damit zufrieden, verdammt noch mal … Ich will dir mal was sagen: Manche Leute sind dafür geboren, dass ihnen Blumentöpfe auf den Kopf fallen … oder Kugeln in den Rücken geschossen werden, die einem das Licht ausblasen. Was nicht zu ändern ist, ist nun mal nicht zu ändern. Verschon mich damit. Gib mir lieber noch ’n Schluck, komm.«
    »Irgendwann schreib ich darüber, das schwör ich dir«, sagte Mario und goss das Glas seines Freundes randvoll.
    »Ganz genau, das solltest du tun, darüber schreiben, nicht quatschen. Wenn du das nächste Mal darüber sprechen willst, reichst dus mir schriftlich rein, klar?«
    »Eines schönen Tages schieß ich dich auf den Mond, Dünner.«
    »He, was soll das denn jetzt?«
    Mario Conde
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