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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben
Autoren: Leonardo Padura
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Mario. Aber das gehört nicht zu unserer Arbeit, ja? Also, ich lass dich raus und fahr weiter. Morgen früh um sechs.«
    Der Wagen fuhr über die Calzada de Santa Catalina. El Conde sah Leute für Coca-Cola anstehen, sah die frisch renovierte Pension mit ihrer Neonreklame (zwei rote Herzen, durchbohrt von einem grünen Pfeil der Hoffnung) und ein Pärchen, das gerade hineinging. Er sah die ungeduldig wartende Menschenmenge an der Bushaltestelle, die Kinoreklame und den Autofahrer, der einem anderen »Du Arsch!« zurief, weil der ihn rechts überholte. Niemand macht sich Gedanken über den Tod, dachte er, und deshalb können wir weiterleben, weiterlieben, herumrennen, arbeiten, schimpfen und beleidigen, essen, ja, auch töten und denken. Und dann sah er das Haus der Zwillingsschwestern hinter der Hecke und den Skulpturen, mit seinen schwarz glänzenden Fensterflächen auf der weißen Fassade und seinem plötzlich veränderten Schicksal. Aus diesem Haus war Rafael Morín getreten, um alles auf eine Karte zu setzen und für immer sein blendendes, selbstsicheres Lächeln zu verlieren.
    »Dann also um sechs«, sagte er, als sie das Beerdigungsinstitut erreichten. Vor dem Eingang stand niemand. Möglicherweise hatte die Gerichtsmedizin die Leiche seines ehemaligen Mitschülers noch nicht freigegeben. »Und pass auf, dass du sie nicht schwängerst.«
    »Nein, nein, sag so was nicht, ich will mir das Leben nicht unnötig schwer machen.« Lächelnd drückte Manolo die Hand, die sein Chef ihm reichte.
    »Spiel hier nicht den wilden Mann. Die Vilma hat dich ganz schön am Wickel.«
    »Ja, und?« Sargento Palacios lachte, legte den Gang ein und gab Gas. Eines Tages rast er sich zu Tode, dachte Mario Conde.
    Er stieg die kurze Treppe zum Eingang hinauf. Auf der Tafel stand nur ein Name: Rafael Morín Rodríguez, Saal D. Es war kein guter Tag zum Sterben, der Leichenbestatter hatte nicht viel zu tun. Mario ging zum Saal D, traute sich aber nicht hinein. Der süßliche Friedhofsblumenduft, der sich in die Wände eingefressen hatte, schlug ihm auf den Magen. Er setzte sich in einen der Sessel im Flur, neben den Standaschenbecher und das öffentliche Telefon, und zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte nach feuchtem Gras. Da drin lag Rafael Morín, tot und fertig zum Vergessen. Es würde eine todtraurige Beerdigung geben. Keiner seiner Freunde vom Silvesterabend und vom Aufsichtsrat und von den Auslandsreisen würde kommen. Der Mann war in mehrerer Hinsicht ein Aussätziger. Vielleicht wollte nicht mal seine Frau auf dem Friedhof dabei sein. Die Wege seiner früheren Freunde aus der Oberstufe hatten sich so weit von seinem entfernt, dass sie wohl erst Monate später von seinem Tod erfahren würden, zweifelnd, ungläubig. El Conde stellte sich die Beerdigung unter anderen Umständen vor: den Saal voller Menschen und Kränze, das Bedauern über den Verlust eines so herausragenden, so jungen Kaders, die Trauerrede, bewegend und überladen mit großartigen, schmerzerfüllten Adjektiven. Er warf die Kippe in den Aschenbecher und trat vor die Tür von Saal D. Wie ein Wilddieb näherte er sein Gesicht der Scheibe und blickte in den fast leeren Raum. Genauso hatte er es sich vorgestellt: Rafaels Mutter, ein Taschentuch vor Mund und Nase, weinend, umgeben von ihren Nachbarinnen, unter ihnen die beiden Frauen, die am Sonntagmorgen im Waschraum gewesen waren; eine hielt der alten Frau die Hand und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Für sie alle war Rafaels Unglück irgendwie ihr eigenes Unglück, das Ende eines tragischen Schicksals, das der Junge herauszufordern versucht hatte. Tamara saß ihrer Schwiegermutter gegenüber, er sah nur halb ihren Rücken und das widerspenstige krause Haar. Ihre Schultern zuckten nicht, vielleicht verdrückte sie ein paar stille Tränen. Zwei Stühle von ihr entfernt saß, ebenfalls mit dem Rücken zur Tür, eine weitere Frau, die er zu erkennen versuchte. Sie schien jung zu sein, der Haarschnitt ließ ihren Nacken frei, sie saß aufrecht, mit geraden Schultern, und die Haut ihrer Arme war glatt. Da blickte sie zur Seite, zu Tamara hin, und er konnte ihr Gesicht im Profil sehen. Es war Zaida. Ihre unbedingte Treue zum Toten verdiente Anerkennung. Sieben Frauen, nur eine davon eine Arbeitskollegin. Und vorne der fest verschlossene Sarg auf grauem Stoff, ungewohnt nackt ohne die Blumen, die man normalerweise bei einer Totenwache erwartet. Es wird eine todtraurige Beerdigung, dachte er wieder und ging
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