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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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1
    Nikita hatte eine physiologische Eigentümlichkeit. Er fiel oft in Ohnmacht. Natürlich nicht beim Anblick von Blut oder bei einem häßlichen Wort, wie gewisse Turgenjewsche Fräulein, nein – einfach so: mitten im Gespräch, bei starkem Frühlingswind oder in einer Metrounterführung, die aussah wie ein Raumschiff. So sehr erregte ihn das Leben. Und so sehr nahm er sich alles, was um ihn herum war, zu Herzen, daß sein Organismus die Spannung manchmal nicht mehr aushielt und sich selbsttätig abschaltete. Anders ließ sich Nikita nicht zwingen, eine Pause zu machen und Atem zu holen, den es ihm ständig verschlug.
    Außerdem tat Nikita häufig etwas weh, ganz plötzlich und irrsinnig heftig. Etwas, das sonst niemandem weh tat, irgendein absurder Körperteil. Zum Beispiel die Ferse. Oder das Handgelenk. Oder sogar der Zeigefinger. Auch der Schmerz legte ihn lahm, aber nicht so abrupt, Nikita nahm die Umwelt noch wahr – als Bild hinter trübem Glas. Tief drinnen aber breitete sich Stille aus, in der Grillen zirpten und Zikaden ihr gewichtiges Wort sprachen. Nikita lauschte den Zikaden und schaute lächelnd auf die Welt. Wie aus weiter Ferne. Wie aus einem anderen Leben. Und der Zug rollte sanft nach Toschtschicha …
    Nikita kam zu sich.
    Mit den trüben Augen des offenen Abteilwagens blickte ihn sein Land an. Sein Hinterkopf sammelte Läuse aus einer fremden Jacke, die Beine hatte er in dem engen Gang zwischen Bündeln, Koffern und Rollwagen ausgestreckt.
    Das Land machte immer wieder Anstalten, Nikita mit heißem Wasser zu übergießen, wenn es bedrohlich schwankend nach den Haltestangen griff, ihn mit Stockfisch und hausgemachten Piroggen zu füttern, mit aufgeweichten Bonbons zu beschmieren, mit Wodka zu tränken und zum Schafskopf zu machen mit speckigen Karten, auf denen statt der Damen nackte Mädchen prangten.
    Das Land wollte mit Nikita in Kontakt treten. Beziehungen anknüpfen. Das Land ließ ihn nicht schlafen und nicht nachdenken, es ließ ihm keine Ruhe.
    Das Land gähnte, schnarchte, stank, aß, trank, kletterte auf die oberste Pritsche und trat dabei jemandem auf die Hand, knabberte Sonnenblumenkerne, löste Kreuzworträtsel, kratzte sich die Eier, zankte mit dem Zugbegleiter, weil der ihm einen Platz direkt neben der Toilette zugewiesen hatte, stand auf der lauten Plattform herum und sagte:
    »Wie heißt diese Station?« »Guckt mal, der Junge ist schon wieder weggetreten.« »Dabei hat er doch gar nichts getrunken.« »Vielleicht drogensüchtig.« »Klar, die fixen oder schnüffeln heutzutage alle!« »Halt den Mund, Mutter, red nicht von Sachen, von denen du nichts verstehst, dem Mann ist schlecht …« »Vielleicht einen Arzt?« »Wieso soll ich den Mund halten?! Ich hab mein Leben lang an der Werkbank gestanden! Hab geschuftet für Mistkerle wie dich! Also verbiete mir gefälligst nicht den Mund, ich bin Invalidin!« »He, sachte, Frau, die Kinder schlafen!« »Die Kinder! Wenn die groß sind, werden sie auch Kleber schnüffeln und alten Leuten den Mund verbieten!« »Hör auf zu meckern, Babuschka! Komm, singen wir lieber was: AUF DEM FELD DIE PANZER DRÖ-Ö-ÖHNEN! SIE ZOGEN IN DIE LETZTE SCHLACHT!«
    Nikita kehrte wieder in sich zurück und ging hinaus aufdie Plattform, eine rauchen. Auf einer gewundenen, quälend langen Strecke näherte sich das Land schaukelnd der Station Dno * . Dann bremste es scharf und hielt neben einer Bahnsteiglampe.
    »He, Bruder, wo sind wir hier?«
    »Ganz unten!« rief Nikita fröhlich und drängte zum Ausgang.
    Die Bahnstation Dno war menschenleer und feucht. Nur die Fahrdienstleiter wechselten Worte in ihrem außerirdischen Dialekt, und unsichtbare Streckenarbeiter klopften gegen die Eisengelenke der Züge.
    »He, wohin, du Hungerhaken?« fragte die dicke Zugbegleiterin, die aussah wie ein Orakel. »Nicht, daß du wieder hinfällst«, fügte sie in freundlichem Baß hinzu. »Meinst du, ich kratz dich dann von den Gleisen?«
    Nikita lächelte das Orakel an und zuckte die Achseln. Es roch nach Kohle, morschem Holz und Eisenbahn. Feiner Nieselregen kitzelte sein
     Gesicht. Und alles schien ein Geheimnis zu kennen. Das man nicht ausplaudern konnte. Weil es nicht lohnte.

    * Russ.: Grund, Boden, ganz unten (Anm. d. Ü.)

2
    Im Waggon trat ein kleiner Junge zu Nikita. Er faßte ihn ans Knie und fragte ernst:
    »Hast du einen Traum?« Und sagte, ohne die Antwort abzuwarten: »Ich ja: Ich möchte ins Gebüsch fallen und dort leben!«
    »Das ist alles?« fragte
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