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Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Titel: Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Autoren: Trevanian
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Martin mit ihren weitschweifigen philosophischen Reden das Spiel verschleppen. Fällt aber ihm selber eine gute Geschichte ein, wird er über den Tisch langen und die Hand auf die Karten legen, und keiner darf mehr weiterspielen, wenn er loslegt.
    Auch Moische verrät sich in seinem Spiel. Er nimmt sein Blatt auf und ordnet es mit Bedacht. Den Blick hinter den runden Gläsern nach innen gerichtet, prüft er überschlägig seine Karten. Er wäre der weitaus beste Spieler, wenn er sich ganz auf das Spiel konzentrieren würde. Gewinnen aber bedeutet ihm nichts. Was für ihn zählt, ist, Freunde um sich zu haben und mit ihnen zu reden. Gelegentlich, aber nur ganz selten, findet er ein perverses Vergnügen darin, auf David loszugehen und seinen scharfen Verstand daranzusetzen, ihn fertigzumachen, besonders dann, wenn sein Freund ein bißchen zuviel auf die Pauke gehauen hat. Der schmächtige, zurückhaltende Moische ist das ganze Gegenteil seines Geschäftspartners. Tagsüber kann man ihn im Hinterzimmer finden, Polsternägel im Mund, die er Stück für Stück mit drei Hammerschlägen an die richtige Stelle plaziert. Tapp … TAPP  … tapp. Mit dem ersten Schlag wird der Nagel gesetzt, mit dem zweiten eingeschlagen, mit dem dritten festgeklopft. Oder er arbeitet mit fliegenden Fingern und Präzision an seinem kleinen Webstuhl. Sitzt er an einem Repetiermuster, verschwimmt der Ausdruck seines Gesichts, denn seine Aufmerksamkeit wird nur wenig gefordert, und seine Gedanken schweifen ab, hin zu Szenen aus seiner Jugend, zu ethischen Hypothesen, erfundenen Gesprächen mit jungen Leuten, die nach neuen Wegen suchen. Als junger Mensch lebte er in Deutschland. In dem gemütlichen alten Gettohaus, in dem schon sein Urgroßvater geboren wurde und wo es immer nach gutem Essen und nach Bohnerwachs roch. Alle Familienmitglieder waren Handwerker und verarbeiteten Holz und Stoffe. Aber man strebte auch nach Wissen, und der genoß höchstes Ansehen, der die Gabe und die Hingabe zum Studium des Talmud hatte. Als Junge zeigte er einen Hang zum Studieren und zu jener Geisteshaltung, die die Dinge gleichzeitig in ihren kleinsten Einzelheiten und in ihren weitesten Zusammenhängen sieht und die den Talmudschüler auszeichnet – eine Gabe, die Moische ›periphere Vision‹ nennt. Seine Mutter war stolz auf ihn und fand vielerlei Gelegenheit, vor Nachbarinnen zu erwähnen, daß Moische auf seinem Zimmer wäre und schon wieder studiere, statt draußen zu spielen und seine Zeit zu vergeuden. Dabei pflegte sie hilflos die Hände zu heben und zu sagen, sie wisse gar nicht, was sie mit dem Jungen machen solle – immerzu würde er studieren, lernen, geniale Dinge sagen. Vielleicht wäre es auf lange Sicht besser, wenn er ein ganz normaler Junge wäre wie die Nachbarjungen.
    Moisches Schwester betete ihn an und brachte ihm immer etwas zu naschen, wenn er bis in die Nacht hinein studierte. Auch sein Vater förderte seinen geistigen Drang, aber er bestand darauf, daß Moische das familiäre Handwerk erlernte. Oder wie er zu sagen pflegte: »Einem genialen Mann kann es nicht schaden, wenn er auch ein bißchen was kann.«
    Als die Naziverfolgungen begannen, wollten die Rappaports nicht fliehen. Sie waren schließlich Deutsche; der Vater hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft, der Großvater 1870/71. Sie hatten deutsche Freunde und Geschäftspartner. Deutschland war schließlich kein Volk von Ungeheuern.
    Moische überlebte als einziger. Seine Eltern starben an Unterernährung und Krankheit im immer enger werdenden Getto. Und seine Schwester, die zarte, scheue, weltfremde, starb im Lager.
    Er kam nach Montreal, nachdem er zwei Jahre in einem Lager für Verschleppte gelebt hatte. Zuweilen, und dann nur zur beiläufigen Illustration irgendeines Diskussionspunktes, erwähnte Moische das Konzentrationslager und den Verlust seiner Familie. LaPointe konnte nie den Unterton von Scham und Schuldgefühl verstehen, der sich in Moisches Stimme schlich, wenn er von diesen Erlebnissen sprach. Es war, als schämte er sich, derart unmenschliche Vorgänge miterlebt zu haben; als schämte er sich, überlebt zu haben, wo so viele andere nicht überlebt hatten.
    LaPointe sortiert seine Karten nach Farben, schließt den Fächer und haut ihn auf den Tisch, breitet ihn wieder aus, indem er die Karten zwischen Daumen und Zeigefinger klemmt. Er überfliegt noch einmal sein Blatt und schließt es wieder. Er schaut es nicht an, bis das Bieten vorbei ist. Er weiß, was er hat,
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