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Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit

Titel: Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Autoren: Trevanian
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glaub', lieber nicht …«
    »Wovor hast du Angst? Ich pass' schon auf.«
    »Ach, ich geh' lieber heim.«
    »Herrgott noch mal, mit den anderen tust du's doch auch!«
    »Schon, aber …«
    »Komm jetzt! Meine Bude ist gleich um die Ecke.«
    »Also … nein, lieber nicht.«
    »Verdammt noch mal! Dann geh doch heim! Wer will schon was von dir?«
    Ein alter chassidischer Jude mit Peies und Streimel auf dem Kopf, in langem, schwarzem, sorgfältig gebürstetem Rock, kehrt von der Arbeit heim. Würdevoll schreitet er durch die dichtgedrängte Menge, unberührt von dem Gestoße und Geschiebe. Dabei ist er darauf bedacht, nicht allzu demütig zu erscheinen, gemäß dem Spruche, der da lautet: »Zu große Demut ist halber Hochmut.« Also geht er, ohne zu laufen, aber auch ohne zu trödeln. Ein hoheitsvoller und bescheidener Mann.
    Seine Wohnung liegt in einem niedrigen Ziegelbau am Ende einer Seitenstraße. Bevor er in sie abbiegt, schaut er immer erst auf das Straßenbild, obwohl er in der Straße schon zweiundzwanzig Jahre wohnt. Vorsicht kann nie schaden.
    ›Die Main‹ ist Straße und Viertel zugleich. Im engeren Sinne ist die Main der Boulevard St. Laurent, der früher die Grenze zwischen dem französischen und dem englischen Teil von Montreal bildete. Die Straße selbst ist ihrem Wesen und der Sprache nach französisch. Eine heruntergekommene und laute Straße mit kleinen Läden und niedrigen Mieten, wurde sie ganz von selbst zum Auffangbecken, in dem sich die Wellen der nach Kanada strömenden Einwanderer brachen. So erweiterte ›die Main‹ ihre Bedeutung mehr und mehr auf das Gewirr der Neben- und Seitenstraßen, die sich vom Hauptstrang des Boulevard St. Laurent nach Westen und Osten hin zerfasern. Jede neue Einwandererflut ergoß sich voller Furcht und Hoffnung über die Main. Jede nachrückende Gruppe hielt eng zusammen und suchte in kulturellen Gettos von nur wenigen Häuserblöcken Schutz vor Vorurteil und Mißtrauen.
    Sie verschafften sich Arbeit, machten Läden auf, kriegten Kinder. Manche hatten Erfolg, andere scheiterten; diese betrachteten dann ihrerseits die nächste Einwandererwelle mit Vorurteilen und Mißtrauen.
    Die Grenze zwischen dem französischen und dem englischen Montreal schwoll zu einem Niemandsland an, in dem keine der beiden Sprachen dominierte, und schließlich wurde die Main zum dritten Strang im Geflecht der Stadt, zu einer Zone vermischter und doch eigenständiger Kulturen. Diejenigen Einwanderer, die es zu was brachten, und auch die meisten Kinder, zogen in den englischsprachigen Westen Montreals. Die Alten aber blieben, die Alten, die Geld und Mühen in die Ausbildung ihrer Kinder gesteckt hatten, die sich ihrer nun ein bißchen schämten. Die Alten blieben; und die Verlierer; und die Verlorenen.
    Zwei junge Männer sitzen in einem verräucherten Café. Sie haben den Beschlag der Fensterscheibe flüchtig mit der Hand weggewischt und schauen hinaus auf die Straße. Einer ist Portugiese, der andere Italiener. Sie sprechen ein Gemisch aus französischem Slang und falsch ausgesprochenem Englisch. Beide tragen modische Anzüge, die schlecht sitzen. Der Anzug des Portugiesen ist auffallend und billig, der des Italieners auffallend und teuer.
    »He, he!« sagt der Portugiese. »Was hältst du von der? Nicht schlecht, was?«
    Der Italiener lehnt sich über den Tisch und wirft einen Blick auf ein Mädchen, das in Mini, Clogstiefeln und Affenjäckchen draußen vorübertrippelt.
    »Gar nicht schlecht! Beau pétard, hein?«
    »Und was hältst du von ihren foufounes?«
    »Die würde vielleicht schreien. Ich nehm' die Dinger in die Hand, so!« Der Italiener macht vor, wie er in jede Hand eine nimmt und sie runterzieht auf seinen Schoß. »Ich sage dir, die schreit wie am Spieß.« Er wirft einen Blick auf die Uhr über der Kasse.
    »He, ich muß gehen.«
    »Hast wohl was Scharfes in petto?«
    »Hab' ich nicht immer was Scharfes in petto?«
    »Hast ein Schweineglück, du Scheißkerl.«
    Der Italiener grinst, fährt sich mit dem Kamm durchs Haar und patscht die Seiten mit der flachen Hand glatt. Tja, hat vielleicht wirklich Glück. Hat das Glück, gut auszusehen. Aber auch das will gekonnt sein. Wer's nicht hat, der hat's eben nicht.
    In genau fünf Stunden wird er in einer Seitenstraße der Rue Lozeau auf den Knien liegen, das Gesicht im Kies. Tot.
    Plötzlich gerät der Fußgängerstrom ins Stocken. Jemand hat sich übergeben, mitten auf dem Gehsteig. Weiße Stücke in einer ockerfarbenen Soße.
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