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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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mir und weiß nicht, welches der drei Bilder ich für meine Trauer wählen soll, die Frau mit den entzündeten Augen, die sich über die Nähmaschine beugt, die Frau, die auf der Hochzeitsfeier im Naundörfchen ausgelassen getanzt und gesungen hat, oder die lächelnde Mutter von dem Foto, das sie mir damals in den Rucksack gelegt hat. Es sind drei Mütter, drei verschiedene Frauen, die ich nicht zusammenbringe, die ich nie mehr zusammenbringen werde. Es zerreißt mir das Herz und es zerreißt mir die Gedanken.
    Das einzige Bild, das ich ganz deutlich vor Augen habe, ist die Frau, die einsam und verloren auf dem Bahnsteig steht und dem Zug nachschaut, der ihr die Tochter nimmt, aber sie ist so weit entfernt, dass ich ihr Gesicht nicht mehr erkennen kann. Das Foto der lächelnden Mutter ist übrigens wieder bei mir, Bente und der Bauer haben mir den braunen Umschlag mit ihrem und Leas Foto und den Postkarten ins schwedische Quarantänelager geschickt, zusammen mit meinen Kleidern, die ich zurückgelassen hatte, und dem silbernen Armband, das ich von Jesper und Marie zu meinem fünfzehnten Geburtstag bekommen habe. Außerdem auch Wurst, Kekse, gesalzene Heringe, Kaffee und Schokolade. Es war ein wunderbares Paket, das mich zu Tränen gerührt hat.
    Ich habe auch um dich geweint, Mira, als ich von Frau Hvids Tod erfahren habe. Damals waren wir noch im Vorbereitungslager in der Nähe von Marseille. Samis Mutter hat die Befreiung nicht lange überlebt, noch nicht mal ein Jahr. Sarah ist trotzdem nicht zu uns gekommen, sie hat sich dafür entschieden, bei ihrem Vater zu bleiben, sie hilft ihm bei der Büroarbeit und ist, wie sie schreibt, seine rechte Hand geworden. Der Mühle geht es gut, sehr gut sogar, Herr Hvid hat recht behalten, nach dem Krieg brauchten die Menschen Brot, viel Brot. Ich habe Sami gefragt, ob es ihm nicht leidtut, weggegangen zu sein und auf die Mühle verzichtet zu haben. Er hat nur gelacht. »Mein Vater lässt sich von der Mühle auffressen«, hat er gesagt, »und mir tut Sarah leid, dass sie sich von ihm vor den Karren spannen lässt.«
    Wir sind froh, dass Frau Hvid noch erfahren hat, dass wir geheiratet haben, Sami und ich. Warum wir geheiratet haben? Eigentlich nur, damit uns keine Behörde, keine Obrigkeit mehr trennen kann. Für uns hätten wir den Rabbiner nicht gebraucht, auch nicht die vielen Glückwünsche. Trotzdem war es ganz schön. Und manchmal macht es mir auch Vergnügen, von Sami als »meinem Mann« zu sprechen. Wenn Sami »meine Frau« sagt, wird er immer ein bisschen verlegen. Dann muss ich mir ein verräterisches Lächeln verkneifen, weil ich weiß, woran er denkt. Ich habe nie über solche Dinge mit dir gesprochen, Mira. Hast du das eigentlich kennengelernt? Du weißt schon, was ich meine. Es gibt viele hässliche Wörter dafür, aber Sami nennt es »Liebe machen«, wie die Franzosen. Wir haben es zum ersten Mal in Schweden gemacht, an der Stelle hinter dem Gebüsch, wo wir auch Kerzen für dich, Johann und Marek angezündet haben.
    Mit Sami habe ich gelernt, meinen Körper zu lieben. Auf einmal bestand er nicht mehr nur aus einem leeren Magen und juckender Haut. Früher war es mir nur wichtig, etwas in den Bauch zu bekommen, und mein größter Traum war es, irgendwann einmal satt zu sein, so richtig satt. Jetzt weiß ich, dass Sattsein nicht alles ist. Sogar am Leben zu sein ist nicht alles. Ich habe etwas Neues kennengelernt, etwas, das mir Freude und Zufriedenheit schenkt. Dieses Neue war und ist überwältigend. Damals, noch in Schweden, habe ich einen Moment erlebt, den ich nie vergessen werde. Plötzlich hatte ich das Gefühl, alles zu verstehen, was jemals gewesen ist, alles, was jemals sein wird, und alles, was nie sein würde, weil es abgeschnitten wurde. Ich weiß noch, dass ich dachte: Das ist Glück, danach habe ich mich immer gesehnt. Aber es dauerte nur einen Moment, dann spürte ich plötzlich die harten Steine unter meinem Rücken und die Luft war kalt und der Himmel weit weg.
    Vielleicht war der Traum zu groß für mich oder ich war zu klein für den Traum.
    Ich würde so gern mit dir darüber sprechen, Mira, jetzt könnte ich eine ältere Freundin brauchen.
    Eine ältere Freundin? Was rede ich da! Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, ein Jahr älter als Mira, die immer zweiundzwanzig bleiben wird. Ein seltsamer Gedanke. Werde ich jetzt jedes Jahr überlegen, wie viel älter ich bin als sie? Neun Jahre sind vergangen, seit wir Leipzig verlassen haben, fünf Jahre
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