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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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Der Stich in meine Fußsohle tat schrecklich weh, ich habe laut geweint. Sie hat mir die Hand auf den Mund gelegt. Still, ein jüdisches Kind darf nicht auffallen. Und wenn Helene und ich mal Krach gemacht haben, was bestimmt nur sehr selten vorkam, hat sie uns sofort zum Schweigen gebracht. Sogar wenn wir im Treppenhaus laut gelacht haben. Still, ein jüdisches Kind darf nicht auffallen.
    Ich habe ihr geglaubt, wie ich ihr immer geglaubt habe, ich bin nicht aufgefallen, nie, nirgendwo. Vermutlich falle ich noch immer nicht auf. Trotzdem habe ich mich in den Jahren seit der Befreiung verändert, ich bin älter geworden. In meiner Erinnerung bin ich in der Zeit davor ein Kind geblieben, ein fügsames Kind, in Dänemark und erst recht in Theresienstadt. Was hat die Ärztin gesagt, die mich nach meiner Ankunft in Schweden untersucht hat? Diese Verbrecher haben dir deine ganze Jugend gestohlen. Bleibt man ein Kind, wenn einem die Jugend vorenthalten wird? Mag sein. Jedenfalls habe ich immer nur alles über mich ergehen lassen, ich habe getan, was man mir gesagt hat, ich habe mich nie gewehrt. Ich war das jüdische Kind, das nicht auffällt, das Kind, das meine Mutter haben wollte. Ich habe mich beim kleinsten Windstoß schon geduckt. Ich weiß ja, dass mir nichts anderes übrig geblieben ist, aber ich hätte es wenigstens einmal probieren können. Habe ich eigentlich je »ich will« gesagt? Ich erinnere mich nicht.
    Das ist jetzt anders. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und ich will endlich leben. Ich will kein Opfer mehr sein, nie wieder. Trotzdem werde ich die Angst nicht ganz los, dass ich vielleicht zum Opfer geboren bin, wie meine Mutter zum Opfer geboren war.
    Ach, Hanna, du bist schon immer ein kleines Schaf gewesen, würde Mira jetzt sagen. Ein bisschen herablassend und ein bisschen zärtlich. Ich glaube, ich habe Mira oft nicht verstanden. Ich habe so vieles nicht verstanden, und ehrlich gesagt, ich habe auch nicht darüber nachgedacht, es ist mir erst hinterher klar geworden. In Theresienstadt war ich überzeugt, wir seien Freundinnen, weil wir immer zusammen waren. Rosa hat es viel besser kapiert als ich. »Wir haben nicht zusammengelebt, wir haben uns gegenseitig beim Überleben geholfen«, hat sie gesagt. Sie hat recht gehabt. Freundschaft war nicht wichtig, Zuneigung war nicht wichtig. Wichtig war nur die Tatsache, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Solidarität hat Mira es genannt. Wir haben ihr so viel zu verdanken. Ich habe ihr so viel zu verdanken.
    Ich weiß jetzt, dass du tot bist, Mira, natürlich weiß ich es. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, du stehst neben mir und ich brauchte nur die Hand auszustrecken, um dich zu berühren. Oder du stehst hinter mir und legst mir die Hände auf die Schultern, diese kräftigen, zupackenden Hände, und schiebst mich vorwärts. Und ich meine, deinen Atem an meinem Ohr zu spüren und deine Stimme zu hören: Los, Hanna, du schaffst das! Aufgeben gilt nicht.
    Dann könnte ich weinen vor Trauer, dass es dich nicht mehr gibt. Als ich Jankas Namen auf einer Liste entdeckte, ihren und die Namen ihrer Eltern und ihrer Brüder, habe ich nicht nur um Janka geweint, sondern auch um dich. So war es auch, als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, da habe ich nicht nur um sie geweint, sondern auch um dich, immer wieder um dich, Mira. Meine Mutter war im Januar 1942 nach Riga deportiert worden, die Listen haben es bewiesen, zusammen mit ihrer Kusine Hetty und etwa siebenhundert anderen Juden aus Leipzig. Soviel ich weiß, hat keiner von ihnen überlebt. Vermutlich gehörte meine Mutter zu jenen, die gleich nach ihrer Ankunft erschossen wurden. Ich will nicht darüber nachdenken, ich will es mir nicht vorstellen. Eigentlich hoffe ich, dass sie schon während des Transports gestorben ist, so schwach und kränklich, wie sie war. Und vielleicht hat ihr ja jemand die Hand gehalten, so wie ich der alten Frau im Zug nach Theresienstadt die Hand gehalten habe, und hat ihr dann die Augen zugedrückt. Diese Vorstellung ist kein Trost, aber sie ist leichter zu ertragen.
    Ich denke oft an meine Mutter, weit häufiger, als ich in Dänemark oder Theresienstadt an sie gedacht habe. Und dann werfe ich mir vor, dass sie gestorben ist, ohne dass ich es gespürt habe. Im Januar 1942 war ich noch auf dem Lindenhof, ich hätte merken müssen, dass ich keine Mutter mehr habe. Ein Kind spürt doch den Verlust der Mutter. Aber ich habe damals nur an mich gedacht. Jetzt sehe ich sie immer vor
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