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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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Vor über dreißig Jahren habe ich Hanna B. kennengelernt, in einem Kibbuz im oberen Galiläa, und ab da habe ich sie fast jedes Jahr getroffen. Wir mochten uns und haben oft lange Unterhaltungen geführt. Natürlich erzählte sie mir auch viel aus ihrem Leben.
    Ihr Tod im Jahr 2006 hat mich sehr getroffen, ich habe seither nicht aufgehört, an sie zu denken. Sie war eine ungewöhnliche Frau, freundlich und sanftmütig mit einem guten, mitfühlenden Herzen, sie war a mentsch, ein jiddisches Wort, das vor allem Güte und Menschlichkeit ausdrückt. Ich habe mich immer gefragt, wie sie nach allem, was sie durchstehen musste, so werden konnte, und seit ihrem Tod lässt mich diese Frage nicht mehr los.
    Ich hätte gern ein Buch über Hanna geschrieben, aber dazu hätte ich, als es noch möglich war, die richtigen Fragen zu ihrer Biografie stellen müssen. Das habe ich nicht getan, dieser Plan ist erst langsam in mir gereift.
    Die Hanna, von der ich in diesem Buch erzähle, ist also nicht Hanna B., auch wenn manches von dem, was sie mir erzählt hat, in diese Geschichte eingeflossen ist. Ich betrachte ein Mädchen, dem seine Jugend gestohlen wurde, und konzentriere mich dabei auf die Jahre zwischen vierzehn und zwanzig. Dabei versuche ich nicht, in die Figur hineinzukriechen, das verbietet mir die Achtung vor dieser Frau. Ich stelle die Frage: Wie kann ein Mädchen, das statt Förderung fast nur Verluste erlebt und beinahe ausgelöscht wird, später als junge Frau so kraftvoll, warmherzig und glücksfähig sein, wie hat sie es geschafft, unter solchen Umständen a mentsch zu werden? Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht, mein Buch kann nur Hinweise geben, die dem Leser ermöglichen, jenem Geheimnis selber nachzuspüren. Ich möchte nicht, dass die Geschichte von Hanna B., soweit ich sie kenne, unerzählt bleibt und vergessen wird. Ich konnte kein Buch über Hanna schreiben, dazu ist es zu spät, also habe ich ein Buch für Hanna geschrieben.
    Mirjam Pressler, im Oktober 2010

Erstes Kapitel
    D ie Sonne brannte vom Himmel, als wäre Hochsommer, dabei war es erst Anfang Mai. Der Schweiß lief Hannelore über das Gesicht, und obwohl sie sich immer wieder mit dem Unterarm über die Stirn wischte, rannen ihr manchmal Schweißtropfen in die Augen und brannten schrecklich. Nur mit Mühe hielt sie sich davon ab, mit ihren erdverschmierten Fingern die Augen zu reiben, denn durch Reiben würde es, das wusste sie, nur noch schlimmer werden. Sie richtete sich auf und dehnte die Schultern nach hinten, spannte sie abwechselnd an und ließ sie wieder locker, um den schmerzenden Rücken zu entlasten, bevor sie sich erneut bückte, eine der durchgeschnittenen Kartoffeln aus dem Eimer nahm und in die lange, schnurgerade Furche legte, die Hella mit einer Hacke gezogen hatte.
    Am Abend zuvor hatten sie am Lagerfeuer gesessen und die Kartoffeln zurechtgeschnitten. »Passt auf, dass bei jedem Stück mindestens zwei Augen bleiben«, hatte Joschka ihnen erklärt. »Wenn eine Kartoffel nur drei Augen hat, lasst ihr sie ganz. Hat sie mehr als drei, wird sie durchgeschnitten, damit ihr aus einer großen Kartoffel zwei oder drei Schnitze zum Stecken kriegt. Wir müssen sparsam sein.«
    Sparsam sein, damit kannte Hannelore sich aus, Sparsamkeit bestimmte ihr Leben. »Wir müssen sparen« war wohl der Satz, den ihre Mutter am häufigsten benutzte. Helene, ihre große Schwester, hatte einmal gesagt, früher, als ihr Vater noch lebte, sei alles anders gewesen, aber daran konnte Hannelore sich nicht erinnern. Sie wusste nur, wer heute nicht spart, kann morgen schon verhungern, und jeder Pfennig, den man ohne Not ausgibt, pflastert den Weg ins Verderben. Ihre Mutter passte auf, dass sie das nicht vergaß. Für sie war es also das Selbstverständlichste von der Welt, dass man sparsam sein musste, aber woher wusste es Joschka, der in Leipzig in dem feinen Waldstraßenviertel wohnte und offensichtlich alles bekam, was er wollte? Joschka, der ihr letzte Woche sogar eine Tafel Schokolade geschenkt hatte, als ihm aufgefallen war, dass niemand an ihren Geburtstag gedacht hatte.
    Es war ihr vierzehnter Geburtstag gewesen, der erste, den sie allein gefeiert hatte, ohne ihre Mutter, die ihr ein Päckchen mit einer Garnitur lachsfarbener Unterwäsche geschickt hatte. Sie hatte ihren Geburtstag verschwiegen, weil sie den anderen keine Gelegenheit bieten wollte, wieder damit anzufangen, wie jung sie doch war. Deshalb hatte sie natürlich auch keine Geschenke
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