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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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Jisroel ausgesprochen hat. Ich bin nicht die Einzige, die in dieser Nacht nicht schlafen kann, nicht nur wegen des Sonnenbrands, den ich mal wieder bekommen werde, weil ich gestern zu lange an Deck geblieben war. Ich habe die weiße Haut meines Vatersgeerbt, der Sonnenbrand wird mich mein Leben lang an ihn erinnern. Ich kann nicht schlafen und ich will auch nicht schlafen, ich will mit allen Sinnen die Ankunft erleben. Ich will sehen, wie die Küste, die erst nur ein schmaler, lang gestreckter Streifen sein wird, allmählich näher kommt und größer und heller wird, bis man Bäume und Häuser erkennt. Menschen. Ich will mit offenen Augen dem Land entgegenfahren, nach dem ich mich so lange gesehnt habe, dem Land, das seit drei Monaten, seit dem 14. Mai 1948, ein eigener Staat ist, offiziell von allen anderen Staaten anerkannt. Außer von den arabischen Ländern. »Wir werden um unseren Staat kämpfen müssen«, haben Jossi und Schimon gesagt, »uns wird nichts geschenkt.«
    Als ob uns je etwas geschenkt worden wäre.
    Wir werden am frühen Morgen in Israel ankommen. Vor anderthalb Jahren, als wir es schon einmal versuchten, war es Nacht, eine dunkle Neumondnacht, als wir die Küste Palästinas erreichten und den Engländern in die Hände fielen. Sie haben uns sofort auf Militärschiffe verfrachtet und nach Zypern gebracht, zum Hafen von Famagusta, und von dort mit offenen Lastwagen in das Internierungslager, das sie für Juden eingerichtet hatten, die versuchten, illegal in Palästina einzuwandern. Für Flüchtlinge, die die deutschen Konzentrationslager überlebt hatten, die meisten hilflos und zerbrochen durch die Zeit des Grauens, die hinter ihnen lag. Ausgerechnet die Engländer haben sie erneut in Lagern eingesperrt. Das werde ich nie verstehen. Sie hatten doch jahrelang gegen Hitler Krieg geführt, sie hatten für die Befreiung der Opfer gekämpft, wie konnten sie die Unglücklichen nun wieder einsperren, ohne die Achtung vor sich selbst zu verlieren? Aber sie haben es getan. Wo war ihr Gewissen? Wo war ihr Mitgefühl?
    Sami und ich haben die lange Zeit auf Zypern gut überstanden, relativ gut, obwohl das Lager wirklich schlimm war, ich will es nicht beschönigen. Aber wir hatten uns in den Monaten im Vorbereitungslager Daphne in der Nähe von Marseille gut erholt. Wir waren jung, wir waren kräftig, zumindest im Vergleich zu vielen anderen, die aus verschiedenen DP-Lagern* direkt aufs Schiff und dann nach Zypern gekommen waren. Und wir waren zusammen. Das war, denke ich, das Wichtigste, wir hatten unsere gemeinsamen Nächte, die uns halfen, die Tage zu überstehen.
    Sami hat als Krankenpfleger gearbeitet und ich bei den Kindern, den vielen elternlosen Kindern, die von der Organisation aus Waisenhäusern, aus Verstecken, von Pflegeeltern und aus Klöstern zusammengeholt worden waren. Viele von ihnen waren in einem schrecklichen Zustand, verwahrlost, körperlich und seelisch krank. Es hat mich oft so geschafft, dass ich am liebsten ständig geweint hätte. Dann konnte ich es nur aushalten, wenn ich mir gesagt habe: Aber sie leben! So viele sind umgekommen, und sie leben! Und egal wie schlimm die britischen Lager auch sind, es sind keine Vernichtungslager. Hier gibt es keine Gaskammern und keine Verbrennungsöfen. Irgendwann werden diese Kinder in Palästina sein, unter Juden, und dort werden sie gesunden, sie werden wieder lernen zu lachen, sie werden, wenn sie Glück haben, Verwandte finden, und sie werden vielleicht irgendwann vergessen, was man ihnen angetan hat.
    Sami sagt immer, sie dürften es nicht vergessen, auf keinen Fall. Ich sehe das anders. Ich halte das Vergessen für eine Gnade, wenn die Erinnerung unerträglich ist und einen daran hindert, zu leben, wenn sie einen innerlich zerstört. Ich wäre dankbar, wenn ich manches vergessen könnte. Zum Beispiel, wie traurig und verloren meine Mutter ausgesehen hatte, damals, als ich sie am Bahnhof von Leipzig zum letzten Mal sah.
    Meine Mutter ist so unauffällig gestorben, wie sie gelebt hat. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Oder hat sie im letzten Moment, als sie begriff, dass sie sterben würde, laut aufgeschrien? Hat sie sich gewehrt? Ach nein! Bestimmt hat sie gedacht: Eine jüdische Frau darf nicht auffallen. So wie sie immer zu mir gesagt hat: Ein jüdisches Kind darf nicht auffallen. Wie oft ich das gehört habe. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit ihr im Park war. Ich lief barfüßig über eine Wiese und trat auf eine Biene oder eine Wespe.
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