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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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von seinem Entschluss abbringen.
    Hanna fiel der Abschied von Sarah sehr schwer, noch schwerer, als ihr der Abschied von Rachel gefallen war. Sie umarmte sie und wollte sie gar nicht loslassen. »Du bist wie eine Schwester für mich, warum muss ich dich jetzt auch noch verlieren?«, sagte sie. »Warum kann ich nicht mal jemanden behalten, den ich lieb habe?«
    Leise sagte Sarah: »Vielleicht komme ich irgendwann auch nach Palästina, aber jetzt geht es eben noch nicht. Meine Mutter braucht mich, du siehst doch, dass sie nicht mehr allein zurechtkommt.«
    Frau Hvid weinte, als sie sich von Hanna verabschiedete. »Willst du nicht doch mit uns kommen, nach Dänemark? Für uns bist du wie eine Tochter.«
    Hanna schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nach Palästina, ich will endlich einmal irgendwo zu Hause sein. Irgendwo, wo man mich nicht einfach vor die Tür jagen kann. Ich glaube, ich habe es noch nie so sehr gewollt wie jetzt.«
    Ein paar Tage später war alles organisiert. Ein Sanitäter trug Frau Hvid zu dem Jeep, der sie nach Dänemark bringen sollte. Sarahs Gesicht war ernst und bedrückt, nur Herr Hvid strahlte. Samuel und Hanna standen im Hof und winkten, als der Jeep abfuhr.
    Sie winkten auch noch, als von dem Auto nichts mehr zu sehen war, dann gingen sie langsam, als könnten sie den Abschied nicht fassen, die Straße entlang in die Richtung, in die der Jeep gefahren war. Die Sonne kam immer wieder hinter den Wolken hervor, die Luft war klar, es roch nach Erde und Gras. Auf einem Acker hackten Frauen Kartoffeln, in der Ferne holperte ein Pferdewagen über einen Feldweg und zog eine dichte Staubwolke hinter sich her. Nach einer Weile drehten sie um und gingen ebenso langsam wieder zurück. Sie sagten nichts, aber das war auch nicht nötig. Unsere Freundschaft hat sich ganz natürlich entwickelt, ohne dass ich etwas dazugetan habe, dachte Hanna, so selbstverständlich wie damals mit Axlan. Sie griff nach Samuels Hand.
    Im Quarantänelager herrschte inzwischen reges Treiben, Leute überquerten den Hof auf dem Weg zum Speisesaal. Vor dem Büro stand eine Gruppe dunkel gekleideter Männer, einer hob den Arm und deutete hinauf zum Himmel. Wind trieb kleine, weißgesäumte Wolken vor sich her wie eine Herde Schafe. Hanna überlegte, ob der Himmel in Palästina auch so weit und hoch war wie hier. Zumindest war er dort die meiste Zeit des Jahres blau, dachte sie. Was für ein Blau das wohl war? So blau wie die schönste Kornblume? Ein plötzlicher Windstoß ließ sie erschauern. Samuel legte den Arm um ihre Schulter. »Wir bleiben zusammen, nicht wahr?«, fragte er. Seine Stimme klang weich.
    Hanna schaute ihn an. Sie war nicht überrascht, sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Sie dachte an die Veilchen, die er ihr auf der Fahrt von Theresienstadt nach Schweden in die Hand gedrückt hatte, und lächelte. »Ja«, sagte sie. »Ja, wir bleiben zusammen.«
    Hanna
    Wir sind zusammengeblieben, Sami und ich. Drei Jahre sind seit der Befreiung vergangen, drei Jahre, in denen viel geschehen ist, aber das ist eine andere Geschichte. Die Hauptsache ist, dass wir jetzt auf dem Schiff sind, das uns in die neue Heimat bringen wird. Zum zweiten Mal. Aber diesmal werden uns die Briten nicht vor der Küste abfangen und nach Zypern verfrachten. Diesmal nicht. Der englische Tiger hat seine Zähne verloren.
    Es ist Nacht, eine warme Nacht, die an die Hitze des vergangenen Tages erinnert und die Hitze des kommenden ahnen lässt. Der Himmel ist weit und hoch und die Sterne spiegeln sich im Wasser. Noch nie habe ich so viele Sterne gesehen. Es ist, als hätt der Himmel die Erde still geküsst … Von wem stammt das? Ach ja, von Eichendorff, Mondnacht. Ein Gedicht, das ich in der Schule gelernt habe, vor vielen Jahren, in einem anderen Leben.
    Mira hat die Sterne geliebt. Ich weiß noch, wie sie einmal gesagt hat, jeder einzelne Stern sei für sie ein Versprechen, eine Verheißung. Und als ich fragte, was für ein Versprechen?, hat sie geantwortet: Auf einen neuen Tag, auf eine bessere Zukunft. Wann und wo das war? In Theresienstadt, in einem anderen Leben. Ich hätte ihr damals gern geglaubt, konnte aber nicht die Zuversicht aufbringen, die sie immer hatte. Heute würde ich ihr glauben.
    Im Osten zeigt ein heller werdender Streifen den beginnenden Morgen an. Vorn an der Reling steht Samuel, mein Mann, zusammen mit Jossi und Schimon, den beiden Israelis, die gekommen sind, um uns nach Erez Israel zu bringen, das meine Mutter immer Erez
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