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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss
Autoren: Marguerite Yourcenar
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Es war fünf Uhr früh. Es regnete. Erich von Lhomond, der vor Saragossa verwundet und dann auf einem italienischen Lazarettschiff behandelt worden war, wartete am Bahnhofsbüfett von Pisa auf den Zug nach Deutschland. Trotz seiner vierzig Jahre war er von einer entschiedenen, in ihrer harten Jugendlichkeit gleichsam versteinerten Schönheit. Französischen Ahnen, einer baltischen Mutter und einem preußischen Vater verdankte er seine hellblauen Augen, seine hohe Gestalt, sein anmaßendes sparsames Lächeln und jenes Hackenschlagen, das ihm jedoch durch seinen gebrochenen bandagierten Fuß einstweilen unmöglich gemacht wurde. Es war die Dämmerstunde, in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen. Erich von Lhomond, der stets hartnäckig auf der rechten Seite der Barrikade geblieben war, gehörte zu jener Art Männern, die 1914 zu jung waren, als daß sie die Gefahr anders als nur oberflächlich kennengelernt hätten, und die sich dann in den europäischen Wirren der Nachkriegszeit aus innerer Rastlosigkeit und aus dem doppelten Unvermögen, zu genießen oder zu verzichten, in Glücksritter verwandelt hatten, jederzeit bereit, irgendeiner halb verlorenen oder halbgewonnenen Sache ihre Dienste anzubieten. Er hatte sich an den verschiedenen Bewegungen beteiligt, die schließlich in Mitteleuropa Hitler an die Macht brachten. Man hatte ihn im Gran Chaco und in der Mandschurei gesehen; und ehe er in Francos Dienste trat, hatte er ein Freiwilligenkorps kommandiert, das in Kurland gegen die Bolschewiken gekämpft hatte. Sein verletzter und wie ein Wickelkind bandagierter Fuß lag schief auf einem Stuhl. Während er sich unterhielt, spielte er zerstreut mit seiner altmodischen goldenen Armbanduhr, die so übertrieben groß und geschmacklos war, daß man den Mut, sie am Handgelenk zu tragen, beinahe bewundern mußte. Er hatte den Tick, von Zeit zu Zeit mit der flachen rechten Hand, an der er einen schweren Siegelring trug, auf den Tisch zu schlagen. Dann klirrten jedesmal die Gläser, seine beiden Kameraden fuhren zusammen, und der pausbäckige, kraushaarige italienische Kellner hinter dem Büfett fuhr aus dem Schlaf. Er mußte mehrmals seine Erzählung unterbrechen, um mit schneidender Stimme einen einäugigen Droschkenkutscher anzufahren, der alle Viertelstunden, triefend wie eine Dachrinne, hereinkam, um ihn zu einer nächtlichen Fahrt nach dem »schiefen Turm« aufzufordern. Einer seiner Zuhörer benutzte diese Störung, um einen neuen »schwarzen Kaffee« zu bestellen. Man hörte ein Zigarettenetui klappen und sah, wie der Deutsche, der plötzlich ganz müde und erschöpft zu sein schien, seine endlose und eigentlich nur ihm selber geltende Beichte unterbrach und sich mit hochgezogenen Schultern über sein Feuerzeug beugte.

    »Die Toten«, heißt es in einer deutschen Ballade, »reiten schnell« – die Lebenden tun's manchmal auch. Nach fünfzehn Jahren erinnere ich mich nur dunkel an die wirren Episoden jenes Bürgerkrieges gegen die Bolschewiken, den wir in Livland und Kurland führten und der wie eine tückische Krankheit oder ein halb erloschenes Feuer fortwährend wieder aufflammte. Jede Gegend hat übrigens ihren eigenen Krieg, der, wie ihr Roggen und ihre Kartoffeln, ein Produkt des Landes ist. Ich habe die zehn ereignisreichsten Jahre meines Lebens dortselbst mit Kommandieren zugebracht, in jenem verlorenen Winkel, dessen russische, lettische oder deutsche Ortsnamen keinem europäischen oder sonstigen Zeitungsleser irgend etwas sagen. Birkenwälder, Seen, Rübenfelder, kleine unsaubere Städtchen, verwanzte Dörfer, wo unsere Leute manchmal ein Schwein zum Abstechen fanden; alte Herrenhäuser, die drinnen geplündert und draußen zerkratzt waren von Kugeln, die den Besitzer und seine Familie getötet hatten; jüdische Wucherer, die von der Gier nach Geld und von der Angst vor den Bajonetten hin und her gerissen wurden; Armeen, die sich auflösten in Abenteurerbanden, von denen jede mehr Offiziere als Soldaten besaß neben der üblichen Anzahl von Narren, Propheten, Spielern, anständigen Leuten, braven Burschen, Trotteln und Trinkern. Was die allgemein übliche Grausamkeit betraf, so hatten die roten Henker, lauter höchsterprobte Letten, eine Kunst des Folterns ausgebildet, die der großen mongolischen Tradition entschieden Ehre machte. Die sogenannte »Marter
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