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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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hereinscheint, noch grau ist, sieht sie, dass der Morgen angebrochen ist. Die Sonne steigt langsam höher. Erin liegt auf der Couch und hat einen schlechten Geschmack im Mund.
    Sie wischt sich den Schlaf aus den Augen, blinzelt ein paarmal.
    Ist Frank letzte Nacht nach Hause gekommen?

    Sie erinnert sich, dass sie, als sie zuletzt mit ihm telefoniert hat, überwältigt war vor Erleichterung, als er ihr sagte, dass sie niemanden überfahren und getötet hatte, dass sie nichts Schlimmeres angerichtet hatte, als den Spielzeugwagen eines Kindes kaputtzufahren. Sie ist dann zur Couch gegangen, um sich hinzulegen und auf ihn zu warten. Danach nichts. Wunderbarer Schlaf. Sie träumte von dem Unfall, aber es waren nur Träume – keine Alpträume -, und jetzt, beim Erwachen, spürt sie nicht diese fiesen Alptraumkopfschmerzen, die sie manchmal bekommt.
    »Frank?«, ruft sie, aber niemand antwortet.
    Sie schlurft einsam durch die Wohnung, und da sie ein Zimmer nach dem anderen leer vorfindet, wird sie immer nervöser.
    Warum ist er denn noch nicht zu Hause?
    Angerufen hat er – sie sieht auf die Uhr – vor fast anderthalb Stunden. Er müsste längst zu Hause sein. Selbst wenn er nach einer Autopanne zu Fuß gegangen wäre, müsste er jetzt zu Hause sein.
    Und warum ist er es nicht?
    Und wo ist er?

48
    Frank löst den Blick von Kat und sieht, wie ein weißer Ford-F-100-Krankenwagen um die Ecke schießt. Der Schwung, mit dem es die scharfe Kurve nimmt, bringt das Fahrzeug für einen Moment in Schieflage, aber schnell hat es sich wieder gefangen und rast Frank und dem Einsatzort entgegen. Nichts als Licht und Lärm.
    Sekunden später ist es angekommen und stoppt mit quietschenden Reifen.
    Die Beifahrertür wird geöffnet, und ein blasser dunkelhaariger Mann, Mitte bis Ende dreißig, steigt aus. Er wirkt wie jemand, der bereits zu viel gesehen hat, aber auch weiß, dass er in seinem Leben noch viel mehr zu Gesicht bekommen wird.
    Frank steht auf und tritt zur Seite, damit der Mann und sein Partner, der zur Fahrertür des Krankenwagens aussteigt, ihre Arbeit tun können.
     
     
    Noch bevor der Krankenwagen ganz zum Stillstand gekommen ist, stößt David bereits die Beifahrertür auf und springt aus dem Fahrzeug.
    Er braucht niemanden zu fragen, wo sich die verletzte Person befindet. Er sieht sie, noch bevor seine Füße den Boden berühren: Eine rotbraune Decke aus Blut hüllt ihren Körper ein. Dasselbe Rotbraun ist rundherum verspritzt – wohin er auch blickt, überall Blut.

    Ein farbiger Mann kniet bei der Frau, streichelt wie abwesend ihr Haar und schaut ihm erwartungsvoll entgegen, als er aus dem Wagen springt. Er hastet hinüber zu ihm und der Frau, die dort liegt. Als er den Mann bitten will, zur Seite zu gehen, tut der es bereits von selbst.
    »Was ist passiert?«, fragt David, um die Situation besser einschätzen zu können.
    »Man hat auf sie eingestochen«, sagt der Mann. Eine bittere Untertreibung. Allein das Küchenmesser, das bis zum Heft in ihrer Brust steckt, sagt alles, selbst wenn die anderen Wunden nicht zu sehen wären. Das Kleid hat man ihr bis zur Taille hochgeschoben, und sowohl in ihrer rechten Wade wie in ihrem linken Oberschenkel klaffen Stichwunden. Vier blutige Schnitte ziehen sich über den Bauchbereich. Ein weiterer Stich hat ihre Schulter aufgeschlitzt. Einer ihren Nacken. Einer ihren unteren Rücken. Ihre Arme sind offen, ganz ohne Haut – wie eine anatomische Zeichnung aus einem medizinischen Lehrbuch -, und David darf sich nicht ausmalen, wie das geschehen ist. Ihr Höschen ist blutgetränkt und zur Seite geschoben.
    Der Farbige muss bemerkt haben, was er sich ansieht, denn er sagt: »Ich wollte das Kleid herunterziehen, aber ich wusste nicht, ob ich dadurch Beweismittel zerstöre.«
    David nickt, geht um sie herum, fühlt ihren Puls. Der ist schwach, aber noch da.
    John kommt mit der Schaufeltrage unterm Arm und bleibt wie angewurzelt stehen.
    »Um Gottes willen«, sagt er, »ist sie tot?«
    »Sie lebt«, antwortet David und hört Hochachtung in der eigenen Stimme.
    Er bewundert sie. Sie besitzt Kampfgeist. Er schließt es nicht daraus, dass sie noch am Leben ist – obwohl jemand mit weniger Kampfgeist schon längst tot wäre -, sondern
aus der Menge an Blut. Sie ist eine Frau, die sich geweigert hat zu sterben, die versucht hat, sich aus der Lage herauszukämpfen, in die sie geraten ist. Das Leben in einer Stadt wie dieser besteht aus einer zufälligen Begegnung nach der anderen, Fremde,
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