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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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blutbesudelten Hof. Sie stellt fest, das jeder jeden anschaut und das Blut begafft – da ist so viel Blut -, aber wenn zwei Menschen einander gleichzeitig ansehen, wenn die Gefahr besteht, dass es zu Blickkontakt kommt, oder er tatsächlich entsteht, dann huscht etwas wie Scham über die Gesichter, und die Blicke werden gesenkt.
    Diane macht es nicht anders. Als der Junge mit der kranken Mutter sie im selben Moment anschaut, in dem ihr Blick ihn trifft, sehen sie einander kurz in die Augen. Sie
reagiert beschämt und findet plötzlich die eigenen Schuhe sehr interessant.
     
     
    Von der Frau, die er gestern Abend in ihrem Wohnzimmer hat weinen sehen, wendet Patrick den Blick zur Straße. Ein Krankenwagen steht am Bordstein. Warnlichter blitzen. Die beiden Männer transportieren jemanden auf einer Trage: die junge Frau, die er hier draußen gesehen hat, die junge Frau, die überfallen wurde. Sie tragen sie vorbei, heben sie in den Krankenwagen und steigen dann ein.
    Türen werden zugeschlagen.
     
     
    Als Frank den Krankenwagen wegfahren sieht, schnürt ihm eine ungewöhnlich tiefe Traurigkeit die Brust ein und lässt ihn schwer atmen. Kurz darauf wendet er sich von der Straße ab und dem Hof zu, wo er mehrere seiner Nachbarn entdeckt. Und Erin – seine Frau. Frank geht hinüber, muss dabei einen großen Schritt über eine Blutlache machen und spürt auf einmal, dass sich die Trauer und die Übelkeit in seinem Innern miteinander vermischen und sich in etwas völlig anderes verwandeln – eine eigentümliche, aber unbestreitbare chemische Reaktion.
    »Niemand hat gesehen, was hier draußen geschehen ist?«, sagte er und blickt von einem zum anderen. »Niemand hat die Polizei gerufen?«
    Er denkt daran, wie er sie gesehen hat, als sie auf dem Heimweg war von der Bar, in der sie arbeitet, wie er ihr im Vorbeifahren zugewinkt und sie ihn angelächelt hat. Es kommt ihm vor, als sei es schon eine Ewigkeit her, aber es war erst vor gut zwei Stunden. Daran denkt er und denkt zudem, dass sie die ganze Zeit hier draußen gewesen sein
muss. Ihre Schlüssel stecken immer noch in der Eingangstür. Er denkt an all das Blut. Eine Spur zieht sich über den gesamten Hof, der nachts beleuchtet ist. Von schwachen Lampen, aber von Lampen, hell genug zumindest, um etwas zu erkennen. Hell genug, um den Hof bei Nacht überblicken zu können, selbst wenn man in der Wohnung Licht anhat.
    Frank schluckt. Er zittert. Er merkt, dass seine Hände zittern. Zu viel ist geschehen.
    Er steckt die Hände in die Taschen, damit sie nicht mehr zittern, und sieht von einer Person zur anderen. Niemand erwidert seinen Blick. Sie alle stehen schweigend da und schauen zu Boden.
    Und dann wird das Schweigen durchbrochen. Ein Mann mit einer schiefen Nase, aus deren Löchern blutige Papierstöpsel ragen, sagt: »Wir – wir müssen gehen.«
    Er zerrt die Frau, die bei ihm ist, an Frank vorbei zur Straße. Keiner von beiden sieht ihn an. Keiner von beiden sieht überhaupt jemanden an. Sie gehen ungerührt zur Straße. Die Frau wäre fast auf einem Blutfleck ausgerutscht und gefallen. Dann sind sie aus Franks Blickfeld verschwunden.
    »Ich muss auch los zur Arbeit«, sagt Thomas. Thomas, den Frank immer gern gemocht hat. Wie hat er das geschehen lassen können, ohne etwas zu unternehmen? Wie haben sie alle es geschehen lassen können?
    Thomas geht aus dem Hof zur Austin Street, gefolgt von einem anderen Mann, den Frank nicht kennt.
    »Ich gehe auch«, sagt eine Frau mit einem Koffer. Und das tut sie. Sie geht davon.
    »Ich habe den Hörer abgenommen, um die Polizei zu rufen«, sagt Patrick.
    Frank weiß, dass er ein guter Junge ist. Er kümmert sich um seine kranke Mutter. Eine Menge Arbeit, aber er tut es. Undankbare Arbeit, aber er verrichtet sie.

    »Ich hab den Hörer abgenommen«, sagt er nochmal.
    »Liebling?«, sagt eine Stimme, eine Stimme, die er erkennt, eine Stimme, die er während der vergangenen einundzwanzig Jahre jeden Tag gehört hat.
    Er sieht zu Erin und sie zu ihm.
    Sie geht einen Schritt auf ihn zu.
    Frank sieht sie nur starr an.
    Sie muss in seinen Augen etwas wahrgenommen haben, das ihr nicht behagt, denn sie geht einen Schritt rückwärts und sagt: »Ich bin dann oben.«
    Frank kann sie nur ansehen. Er sieht ihr nach, bis sie fort ist.
    Selbst in den Taschen zittern seine Hände noch.

49
    Als der Krankenwagen der Notaufnahme entgegenrast, nur Licht und Lärm, schiebt sich David weg von der jungen Frau. Kat hat sie der Farbige genannt.
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