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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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die einander zu Tausenden über den Weg laufen, manchmal aufeinander Einfluss nehmen, wenn auch gewöhnlich auf völlig unerhebliche Weise – Hi, hallo, eine gestohlene Brieftasche, aus der Hand gefallenes Kleingeld, entschuldigen Sie, Sir, Sie haben Ihren Hut verloren, Augenkontakt in der U-Bahn, bitte, setzen Sie sich doch, mir war entgangen, dass Sie schwanger sind, sonst hätte ich Ihnen schon früher meinen Platz angeboten -, aber manchmal kommt es auch zu einem Zusammenstoß, wenn Fremde einander begegnen. Zur Kollision. So ist es eben in der Stadt. Manchmal endet es tödlich.
    »Legen wir sie auf die Trage«, sagt David.
    John bückt sich hinter sie, schiebt die Schaufeltrage gegen ihre rechte Schulter, die den kalten Beton der Veranda berührt, und hält die Vorrichtung mit den Beinen fest. Dann betten David und John sie gemeinsam auf die Trage, legen sie – David schiebt, John zieht – so behutsam wie möglich auf den Rücken.
    Sie gibt ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich. David ist froh darüber. In dieser Situation und bei ihrer Verfassung ist er froh über jedes Lebenszeichen.
     
     
    Kat kann sich nicht bewegen. Sie versteht nicht, warum, aber sie kann nicht. Es müsste möglich sein, aber es geht nicht. Sie sieht die gebeugten Knie ihres Nachbarn Frank. Er hockt vor ihr und trägt von Wagenschmiere verschmutzte Jeans. Sie spürt, dass seine Hand ihr Haar streichelt. Das tut gut, das ist nett, und sie hört ihn sagen: »Der Krankenwagen
kommt gleich.« Und sie kann den Krankenwagen hören. Er ist da. Sie braucht nur ruhig dazuliegen und zu warten. Dann ein kurzes Gespräch, und jemand bewegt sie, und es tut so weh, o Gott, all die Wunden, die kalt geworden waren und stumm, fangen wieder zu brennen und zu schreien an, aber wenn sie selbst schreien will, wird daraus nur ein kaum hörbares Stöhnen. Dann liegt sie auf dem Rücken und blickt hinauf in den grauen Himmel, den grauen Himmel, hinter dem sich, wie sie glaubt, der böswillige Gott dieses Universums versteckt.
    »Eins, zwei, drei«, sagt jemand. Sie spürt, dass ihr Körper hochgehoben wird.
    Bewegung. Sie wird bewegt. Sie wird irgendwohin getragen, aber sie kann ihren Kopf nicht rühren, und deswegen sieht sie aus den Augenwinkeln den grauen Himmel und Gebäude, die an ihr vorüberziehen, und Bäume, die vorüberziehen, und flüchtige Gesichter mit glänzenden Augen, die sie ansehen – und dann befindet sie sich in einem kleinen Raum mit weißer Decke; nein, es ist kein Raum, sie befindet sich nicht in einem Raum, sondern: in einem Fahrzeug!
    Ein Krankenwagen – sie liegt in einem Krankenwagen.
    Sie ist gerettet.
     
     
    Diane steht im Hof mit dem Koffer in der Hand. Ist es das hier, was sie gestern Abend gesehen hat, als sie aus dem Fenster schaute – dieses viele braune Blut? Das kann es nicht sein, was sie gesehen hat; sie hätte auf jeden Fall die Polizei gerufen.
    Jemand muss sie jedoch jetzt gerufen haben – die Polizei ist da. Aber der erste Schrei, das war doch vor Stunden.
    Sie steht da und kann den Blick nicht von all dem Blut abwenden. Die Warnlichter des Krankenwagens flackern über
ihr Gesicht und über die Steinmauern des Apartmentblocks, über den Beton und die Eichen und die Spaliere. Sie sieht andere Leute auf den Hof kommen. Thomas, der so tut, als sei er verheiratet, es aber nicht ist, kommt aus dem Fahrstuhl. Hand in Hand mit einem anderen Mann. Christopher. Ihn kennt sie. Er kommt manchmal bei ihnen vorbei, um mit Larry fernzusehen: Baseball und dazu Bier. Das erklärt alles, denkt sie, als sie sieht, dass die beiden Hand in Hand gehen. Das erklärt, warum Thomas vorgibt, verheiratet zu sein. Thomas sieht sie und löst schnell seine Hand aus der von Christopher, zieht sie fast schon brüsk zurück. Dann sieht sie den Jungen mit der kranken Mutter. Sie erinnert sich nicht an seinen Namen, er ist einfach nur der Junge mit der kranken Mutter, der sie manchmal von der anderen Seite des Hofs aus beobachtet. Er tritt hinaus in den grauen Morgen und wirkt wie benommen. Seine Augen sind gerötet. Und dann erscheint die Krankenschwester. Sie kommt in ihrer Krankenschwesterntracht und ihren weißen Krankenschwesternschuhen auf den Hof. Und dazu ein Paar, das sie nicht kennt. Der Mann sieht aus, als sei seine Nase gebrochen, denn sie wirkt wie ungeschickt aus Lehm geformt und sitzt schief in seinem Gesicht. Aus beiden Nasenlöchern ragen blutige Papierstöpsel.
    Mit all diesen Menschen steht Diane jetzt auf dem
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