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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege
Autoren: Yannick Grannec
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1.
Oktober 1980
Seniorenresidenz Pine Run , Doylestown, Pennsylvania
    Genau auf der Linie zwischen Flur und Zimmer wartete Anna darauf, dass die Krankenschwester sich für sie einsetzte. Die junge Frau konzentrierte sich auf jedes Geräusch und versuchte, ihre Ängste zum Verstummen zu bringen – Gesprächsfetzen, erregte Stimmen, murmelnde Fernsehapparate, klackende Türen, die sich unablässig öffneten und schlossen, das Klappern der Rollwagen.
    Ihr Rücken protestierte, aber sie zögerte noch, ihren Rucksack abzusetzen. Sie trat einen Schritt vor und stellte sich in die Mitte des Linoleumvierecks, das die Schwelle zum Zimmer markierte. Sie spielte mit der Karteikarte in der Tasche, um sich Mut zu machen. Darauf hatte sie in gut lesbaren Großbuchstaben eine stichhaltige Argumentation verfasst.
    Die Schwester streichelte die altersfleckige Hand der älteren Dame, zog ihre Haube zurecht und schüttelte ihren Kopfpolster auf.
    „Missis Gödel, Sie bekommen doch so wenig Besuch, Sie dürfen ihn nicht ablehnen. Empfangen Sie das Mädchen, machen Sie ihm Feuer unterm Hintern, das wird Ihnen Auftrieb geben!“
    Als sie das Zimmer wieder verließ, schenkte sie Anna ein mitfühlendes Lächeln: Man muss sie zu nehmen wissen, viel Glück, meine Hübsche! Mehr würde sie Anna nicht helfen. Die junge Frau zauderte – dabei hatte sie sich doch auf diese Unterhaltung vorbereitet. Sie wollte die starken Punkte ihres Anliegens vorbringen, wollte jedes Wort deutlich und mit Verve aussprechen. Unter dem wenig freundlichen Blick der bettlägerigen alten Frau besann Anna sich aber eines Besseren. Sie musste neutral bleiben, musste hinter der unauffälligen Kleidung verschwinden, die sie heute Morgen ausgewählt hatte: karierter Rock in Beigetönen, farblich passendes Twinset. Denn wenn nun eines sicher war, dann, dass Adele Gödel nicht zu den alten Frauen gehörte, die man nur noch mit Vornamen ansprach, weil sie sowieso bald sterben würden. Anna zog ihre Karteikarte nicht heraus.
    „Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich Sie kennenlernen darf, Missis Gödel. Ich bin Anna Roth.“
    „Roth? Sind Sie Jüdin?“
    Anna lächelte über den breiten Wiener Akzent, sie wollte sich nicht einschüchtern lassen.
    „Ist das von Bedeutung für Sie?“
    „Keineswegs. Ich möchte bloß immer gern wissen, woher die Leute kommen. Ich lasse nur mehr stellvertretend andere für mich reisen, nachdem ich …“
    Die Kranke versuchte, sich aufzurichten, und verzerrte das Gesicht vor Schmerz. Anna wollte ihr schon zu Hilfe eilen, doch ein eisiger Blick redete ihr das aus.
    „Sie sind also vom Institut? Sie sind doch noch viel zu jung, um in diesem Altersversorgungsheim für Wissenschaftler zu verschimmeln. Aber kommen wir zur Sache, wir wissen beide, was Sie hierherführt.“
    „Wir könnten Ihnen ein Angebot machen.“
    „Was für Deppen! Als wäre es eine Geldfrage!“
    Anna spürte Panik aufsteigen – nicht antworten, einfach nicht antworten! Trotz des Geruchs von Desinfektionsmitteln und schlechtem Kaffee wagte sie kaum zu atmen. Alte Menschen hatte sie noch nie gemocht, auch keine Krankenhäuser. Die ältere Dame wich ihrem Blick aus und spielte mit unsichtbaren Haaren unter ihrer Wollhaube. „Gehen Sie, Miss. Sie sind hier fehl am Platz.“
     
    Anna ließ sich im Besucherfoyer auf einen Sessel mit dunkelbraunem Kunstlederbezug sinken. Sie streckte die Hand nach der Schachtel mit Likörpralinen auf dem Beistelltischchen aus. Dort hatte sie das Mitbringsel bei ihrer Ankunft abgestellt. Süßigkeiten waren eine schlechte Idee – Frau Gödel durfte so etwas sicherlich nicht mehr essen. Die Schachtel war leer. Anna rächte sich nagend an ihrem Daumennagel. Sie hatte es versucht und war gescheitert. Das Institute for Advanced Study müsste sich bis zum Ableben der Witwe gedulden und zu den Göttern beten, dass diese nichts Wertvolles vernichtete. Anna hätte Kurt Gödels Nachlass gern als Erste gesichtet und inventarisiert. Gedemütigt dachte sie an ihre lächerlichen Vorbereitungen. Am Ende hatte sie sich einfach mir nichts, dir nichts hinauswerfen lassen!
    Sorgfältig zerriss sie die Karteikarte und streute die Schnipsel in die Vertiefungen der inneren Pralinenschachtel. Man hatte sie vor der dickköpfigen, ordinären Witwe Gödel gewarnt. Keinem war es je gelungen, sie zur Vernunft zu bringen, weder ihren Angehörigen noch dem Institutsleiter persönlich. Wie konnte diese Irre so halsstarrig auf einem so kostbaren Kulturgut der Menschheit
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