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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Autoren: Dubravka Ugresic
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1.
Die Nördliche Landschaft hat wie die Wüste etwas Absolutes. Nur ist die Wüste in diesem Fall grün und voller Gewässer. Sonst aber gibt es keine Versuchungen, Rundungen oder Wölbungen. Das Land ist flach, was zu einer extremen Sichtbarkeit der Menschen führt, und dies wiederum wird in deren Verhalten sichtbar … Sie bohren ihre hellen, leuchtenden Blicke in die Augen des anderen und prüfen seine Seele. Es gibt keinerlei Schlupfwinkel. Auch ihre Häuser sind es nicht. Sie machen ihre Vorhänge nicht zu und halten dies für eine Tugend.
    Cees Nooteboom

    Ich weiß nicht mehr, wann ich es zum ersten Mal bemerkte. Dass ich an einer Haltestelle stehen konnte, den Blick auf den Stadtplan mit den bunten Straßenbahn- und Buslinien, die ich nicht verstand und die mich kaum interessierten; dass ich gedankenlos dastand und mich auf einmal der Wunsch überkam, mit der Stirn gegen das Glas zu stoßen und mir Schmerz zuzufügen. Und jedes Mal schien es, als würde ich es in der nächsten Sekunde tun …
    »Sie werden doch nicht,
drugarica
…?«, sagt er leicht spöttisch und tippt mir mit dem Finger auf die Schulter.
    Ich bilde mir das nur ein. Aber das Bild ist so lebendig, dass ich wirklich seine Stimme höre und seine Berührung fühle.

    Es heißt, die Niederländer reden nur, wenn sie etwas zu sagen haben. Hier, wo ich mich, vom Holländischen umgeben, auf Englisch verständige, erlebe ich meine Muttersprache häufig als fremd. Erst seit ich im Ausland lebe, bemerke ich, dass meine Landsleute in einer Art Halbsprache kommunizieren, als verschluckten sie halbe Wörter, als stießen sie Halblaute aus. Meine Muttersprache erlebe ich wie die Mühen eines sprachgestörten Invaliden, der auch den einfachsten Gedanken mit Gesten, Grimassen und Tönen untermalt. Die Gespräche meiner Landsleute kommen mir lang, erschöpfend und nichtig vor. Statt zu sprechen, scheinen sie sich mit Worten zu tätscheln, sich tröstlichen Lautspeichel um die Ohren zu schmieren.
    Darum scheint mir, dass ich erst hier zu sprechen lerne. Das ist nicht leicht, ständig brauche ich Pausen, um nicht mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass ich nicht imstande bin zu sagen, was ich sagen möchte; um nicht vor der Frage zu stehen, ob man mit einer Sprache, die nicht gelernt hat, die Wirklichkeit zu beschreiben, so stark das innere Erlebnis der Wirklichkeit auch sein mag, überhaupt etwas anstellen kann, beispielsweise eine Geschichte erzählen.
    Denn ich war Literaturlehrerin.

    In Deutschland angekommen, ließen wir, Goran und ich, uns in Berlin nieder. Es war Gorans Entscheidung, nach Deutschland kam man ohne Visum. Unsere Ersparnisse reichten für ein Jahr. Ich fand mich schnell zurecht. Sittete die Kinder einer amerikanischen Familie. Die Amerikaner zahlten mehr als großzügig und waren nette Leute. Ich fand auch einen kleinen Job in der Staatsbibliothek, einmal wöchentlich, in der Slawistik.Da ich etwas vom Bibliothekswesen verstand, Russisch sprach und in den anderen slawischen Sprachen zurechtkam, fiel mir die Arbeit leicht. Ich wurde schwarz bezahlt, anders ging es nicht. Goran, der an der Mathematischen Fakultät in Zagreb Dozent gewesen war, fand bald Arbeit bei einer Computerfirma, gab sie jedoch nach ein paar Monaten auf. Einer seiner Kollegen war Dozent an einer Fakultät in Tokio geworden und forderte ihn auf, hinzukommen, Arbeit bekäme er sofort. Goran redete lange auf mich ein, mit ihm zu gehen. Ich lehnte ab, weil ich hier, in Westeuropa, meiner Mutter und seinen Eltern näher sei. Es war die Wahrheit. Aber es gab noch eine andere.

    Goran konnte sich mit dem, was geschehen war, nicht abfinden. Er war ein exzellenter Mathematiker, beliebt bei den Studenten, und obwohl er eine »neutrale« Wissenschaft betrieb, hatte er über Nacht seinen Job verloren. Erklärungen, dass all das »normal« ist – dass der Durchschnittsmensch sich im Krieg immer auf dieselbe Weise verhält, dass all das vielen geschehen war, den Kroaten in Serbien, den Serben in Kroatien, den Muslimen, Kroaten und Serben in Bosnien, den Juden, Albanern und Roma, dass all das allen und überall in unserem unglücklichen ehemaligen Land geschehen war –, vermochten ihn nicht aus seiner mit Selbstmitleid vermischten Erbitterung zu befreien.

    Wäre Goran gewillt gewesen, hätten wir in Deutschland bleiben können. Hier gab es Zehntausende von unsresgleichen. Die Menschen nahmen jede Arbeit an, und das Leben ging weiter, auch die Kinder passten sich an. Wir
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