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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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Er stemmt sich weg von Kat und sitzt einfach nur noch da, hinten im Krankenwagen.
    Nach einer Weile sagt er: »Sie ist tot.«
    Die Sirenen heulen nicht mehr, die Lichter gehen aus.
    David hat ihre Handtasche mitgenommen, die neben ihr auf der Veranda lag, und spielt mit dem Gedanken hineinzuschauen, entscheidet sich aber dagegen: Ihre persönlichen Dinge zu sehen, würde alles nur noch trauriger machen. Kann etwas einsamer sein als eine zerknickte Visitenkarte ganz unten in einer Tasche, mit einer draufgekritzelten Telefonnummer ohne dazugehörigen Namen? Kann etwas trauriger sein als ein einzelner Ohrring, der seinen Partner für immer verloren hat und jetzt sein Dasein in Gesellschaft von Kleingeld fristet? Er hat die junge Frau nicht gekannt, natürlich nicht, aber es ist immer hart, bei einem Rettungsversuch versagt zu haben – selbst wenn man nie eine echte Chance hatte. Und dabei war sie so tapfer gewesen, eine zähe Kämpferin. Das macht es noch härter.
    Sie wollte nicht gehen. Sie ist auch nicht gegangen. Sie wurde fortgeholt.
    Ja, auch das macht es härter.
    Aber sie ist fort. Sie ist fort, und als der Krankenwagen an der Notaufnahme vorfährt, geschieht das in aller Stille, einzig
das Motorgeräusch ist zu hören und das Knirschen der dicken Reifen auf dem Asphalt und ein paar losen Kieselsteinen.
    Dann hält das Fahrzeug.
    David stößt die hinteren Türen des Krankenwagens auf.
     
     
    Er steht lange vorm Krankenhaus und sieht hinaus über den Personalparkplatz. Er zündet sich eine Zigarette an und inhaliert. Er holt seine Taschenflasche hervor, schraubt den Deckel ab und gönnt sich einen Schluck – und sieht hinaus über den Parkplatz.
    Er denkt wieder nach – über einen blassen dunkelhaarigen Jungen, der erfahren musste, dass es Ungeheuer wirklich gibt. Über einen blassen dunkelhaarigen Mann, der feststellte, dass Ungeheuer sanfte Augen haben können. Es stimmt etwas nicht in einer Welt, in der Ungeheuer sanfte Augen haben dürfen.
    Nach einem weiteren Zug an seiner Zigarette macht sich David auf den Weg zu seinem Wagen. Er muss weit gehen. Die meiste Zeit, die er wach ist, verbringt er im Sitzen, und deswegen parkt er so weit wie möglich entfernt von den Eingangstüren des Krankenhauses. Dadurch verschafft er sich jeden Tag Bewegung. Er geht langsam zu seinem 1963er Chevy Nova. Da blendet ihn ein Blitz, der kurz seine Lichtfinger in den Erdboden versenkt und wieder verschwindet. Kurz darauf donnert es.
    An seinem Chevy angekommen, schließt er die Beifahrertür auf und öffnet mit einem Daumendruck das Handschuhfach.
    Er greift sich den.38er-Revolver mit dem kurzen Lauf, der auf dem Waffenschein liegt, prüft, ob er geladen ist – ist er, fünf Kugeln, das Patronenlager hinter dem Hahn leer -,
und schiebt ihn sich hinter den Hosenbund. Er zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette, wirft die Kippe auf den Boden und tritt sie mit dem Absatz aus.
     
     
    David tritt entschlossen in Mr. Vacantis Krankenhauszimmer. Ein weiteres Bett steht darin, ein Vorhang teilt den Raum. Aber das andere Bett ist leer, und den Vorhang hat man an der Wand zusammengeschoben. Morgenlicht schimmert durchs Fenster.
    Mr. Vacanti klebt ein blutiges Stück Mull auf der Stirn, wo die Glasscherbe eingedrungen war, und sein linkes Bein hängt in einer Schlinge. Der Herzmonitor, an den er angeschlossen ist, piept stetig, aber David ist ziemlich sicher, dass er bald verstummen wird.
    Mr. Vacanti wendet sich an David.
    »Du«, sagt er.
    David nickt, schließt die Tür hinter sich, geht aufs Bett von Mr. Vacanti zu, zieht den Revolver, spannt den Hahn – die Trommel dreht sich – und drückt den Lauf so fest gegen den Mull auf der Stirn des Mannes, dass sich der Schweinehund vor Schmerzen windet.
    »Ich«, antwortet er.
    Mr. Vacanti blickt zu ihm auf.
    »Ich wusste, dass es geschehen würde«, sagt er. »Ich wusste nur nicht, dass du es sein würdest, Davey. Das wusste ich nicht. Wie sollte ich auch? Dennoch war mir klar, dass es geschehen würde.« Er schluckt. »Aber bevor du abdrückst, sollst du eins wissen.«
    »Was?«, sagt David, obwohl es ihn einen Scheißdreck kümmert, was der Mann zu sagen hat.
    »Es tut mir leid.« Die Entschuldigung rührt David nicht. Er sieht nur hinunter auf den Mann, dieses Ungeheuer mit
den sanften Augen, und fragt sich, wie viele andere kleine Jungen von ihm mit dem Horror der Welt bekanntgemacht worden sind, wie viele andere kleine Jungen zu früh erfahren mussten, dass die Ungeheuer der
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