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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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dreimal und lief und lief, und dann lag er wieder still.
    »Er jagt Hasen«, sagte Dad dazu.
    Träume vom Laufen.
    Sie hebt den Koffer auf und stellt ihn aufs Bett. Dann sammelt sie die Kleidungsstücke ein, die herausgefallen sind, packt sie wieder hinein und schließt den Koffer.
    Sie lässt die Metallriegel zuschnappen, schließt ab, legt die Hand um den Griff, hievt den Koffer hoch und trägt ihn zur Schlafzimmertür. Sie schließt die Tür auf und öffnet sie. Sie kann kaum fassen, dass sie es tatsächlich tut.
    Ist sie verrückt geworden?
    Es gibt schlimmere Dinge, die ein Mensch tun kann, als das, was Larry getan hat.
    Aber sie denkt inzwischen, dass es nicht darum geht, was Larry getan hat. Wenn es nur darum ginge, könnte sie ihm vielleicht irgendwann verzeihen. Vielleicht. Aber da ist mehr: Früher hat seine Art zu essen sie amüsiert und erschien ihr sogar liebenswert, aber jetzt will sich ihr der Magen umdrehen, wenn sie es mit ansehen muss; die Tatsache, dass er nie über irgendetwas reden will; die Tatsache, dass er ihre Handtasche durchwühlt und ihr Trinkgeld stiehlt, um sich in der Kneipe zu besaufen – wenn er fragen würde, ließe sie bestimmt mit sich reden, aber er fragt ja nicht einmal. Dutzende Kleinigkeiten. Darum geht es.

    Sie wandert aus dem Schlafzimmer hinüber ins Wohnzimmer.
    Larry schläft auf der Couch. Er liegt auf der Seite.
    Er trägt nur Hose und Socken. Das ist alles. Sein weißer Wanst, der reinste Fettklumpen, quillt auf die Couch wie nicht ausgerollter Brotteig. Graue Haare sprießen in einer breiten Linie von der Taille hinauf über den Bauchnabel, lichten sich und verschwinden ganz.
    Das Heulen von Sirenen wird lauter, ist aber noch weit entfernt.
    Sie setzt den Koffer ab, geht zu Larry hinüber und küsst ihn sanft auf die Wange.
    »Leb wohl«, sagt sie.
    Als sie zum Koffer zurückgeht und dessen Griff umfasst, hört sie ein Geräusch aus dem Wohnzimmer. Ein Hahn kräht.
    Als sie in Elgin, Texas, wohnte und noch ein kleines Mädchen war, hörte sie jeden Morgen den echten Hahn. Sie hielten Hühner wegen der Eier, aber auch, um sie zu essen. Als sie sieben oder acht war, ging ihr Dad mit seinem Beil in den Hühnerstall, einen Sperrholzverschlag, den er an zwei, drei Nachmittagen zusammengezimmert hatte. Gleich darauf waren vertraute Töne zu hören: Hühner gackerten aufgeregt und dann ein dumpfer Schlag, als das Beil in den Baumstumpf fuhr. Dad hatte, nachdem sie ihr Land gekauft hatten, viele Bäume aus dem Boden reißen müssen, um Platz zu schaffen für ihr kleines Haus. Und nachdem der Hühnerstall gebaut war, wurde einer der Stümpfe darin aufgestellt, um als Hackklotz zu dienen. Bald schon war er von Kerben übersät und von einer glitschigen Schicht aus geronnenem Blut bedeckt.
    Gewöhnlich folgte auf den dumpfen Schlag absolute Stille, als hätten die anderen Hühner begriffen, was vor ihren Augen geschehen war, und seien in Trauer verfallen. Aber an jenem
Tag war es anders. Das Flügelschlagen, das Federgestöber und das Gegacker wollten nicht enden. Dann hörte Diane ein lautes Fluchen – Mistdreckelendescheiße – aus dem Mund ihres Vaters. Kurz darauf kam ein kopfloses Huhn aus dem Stallverschlag ins umzäunte Auslaufgelände gerannt. Diane hatte anschließend neun Tage damit verbracht, Getreidekörner in den kopflosen Schlund zu stopfen. Als sie am zehnten Tag wieder zu dem Huhn kam, war es tot. Der Hühnerkörper hatte sich endlich seinem Kopf angeschlossen, der bereits am Tag der Enthauptung den Schweinen vorgeworfen worden war.
    Dianes Uhr zeigt zehn Minuten nach sechs.
    Die Tier-Uhr geht nach, wird immer langsamer, wahrscheinlich ist die Batterie bald leer.
    Sie überlegt, ob sie Batterien auf die Einkaufsliste am Kühlschrank schreiben soll, gleich unter Eier , die sie gestern notiert hat, nachdem sie die letzten aufgebraucht hatte, um Larry ein Omelett zu machen, bevor sie zur Arbeit musste. Aber es erscheint ihr sinnlos.
    Stattdessen hebt sie einfach den Koffer hoch, geht zur Tür, dreht den Knauf und zieht sie auf.
     
     
    Thomas trinkt den inzwischen lauwarmen Kaffee mit einem Schluck aus und setzt den angeschlagenen Becher auf dem Couchtisch ab. In der linken Hand hat er eine braune Papiertüte mit einem Mittagssnack. Er fürchtet sich davor, auf den blutbesudelten Hof zu gehen, aber er weiß, dass es sein muss.
    In der Ferne, aber allmählich immer näher, das Heulen von Sirenen – in einer Lautstärke, in der man es fast gar nicht wahrnimmt,
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