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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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steigt aus dem Auto und knallt die Tür hinter sich zu.
    Die grauen Wolken lichten sich kurz, als hätte jemand im Himmel das Licht angeknipst, und die Glühbirne sei explodiert. Ein Donnern poltert, und die Luft vibriert vor Elektrizität.
    Jemand hätte ihn aufhalten sollen. Er weiß, dass er gesehen wurde. Er hat die Gesichter der Menschen an den Fenstern bemerkt. Er hat gesehen, dass sie ihm zuschauten. Er hat gesehen, dass sich ihre Augen weiteten und vor Neugier glänzten. Hat gesehen, wie sie die Hände gegen die Scheiben pressten, wie sie sich die Nasen am Glas plattdrückten, wie ihre Münder offen standen.
    Aber niemand hat ihn aufgehalten.
    Es ist nicht zu begreifen.
    Vielleicht hat ihn niemand aufgehalten, weil es ihm bestimmt ist, so zu handeln. Vielleicht besteht darin sein wahrer Lebenszweck. Vielleicht tut er etwas, das getan werden muss, und zwar aus einem Grund, der sich seinem Erkenntnisvermögen entzieht.
    In der Ferne grollt vielfacher Donner.

    Sei nicht albern, William, sagt er sich.
    Du bist krank, das ist alles. Du bist einfach nur krank.
    Er geht über den Asphalt zur Hintertreppe und steigt die Betonstufen hinauf. Der Schlafmangel macht ihn zittrig. Er hat das Gefühl, durch einen Traum zu wandeln. Oben zieht er die schwere Hintertür auf und geht hinein.
    Viele seiner Kollegen sind bereits bei der Arbeit.
    Er zieht seine Stempelkarte aus dem Kartenhalter an der Wand und stellt sich ans Ende der Schlange, die vor der Stechuhr wartet. Ein Typ, mit dem er sich manchmal während der Zigarettenpausen unterhält, gesellt sich direkt hinter ihn in die Schlange. Er heißt Bob.
    »Wie geht’s denn, William?«
    William zuckt die Achseln.
    »Du siehst müde aus.«
    Die Schlange rückt vorwärts.
    »Bin ich auch«, sagt William. »Ich bin müde.«
    »Lange Nacht hinter dir?«
    William dreht sich um zu Bob, der in seinem blauen Arbeitshemd dasteht, Stempelkarte in der einen Hand, Lunchbox in der anderen. Bob, der jeden Tag zu seiner Frau und zu seinem Sohn heimkommt, Bob, der mit seinem Sohn am Wochenende Ballfangen übt. Bob, der wahrscheinlich nie einen solchen Drang verspürt – diesen grässlichen Drang, der wie eine offene Wunde im Innern schmerzt und nicht lockerlässt, bevor du nicht getan hast, wozu er dich treibt – und ihn ganz bestimmt nicht ausgelebt hat; Bob, der die Zigarettenpausen mit ihm verbringt. Seit kurzem vertreiben sie sich die Zeit während der Rauchpausen damit, über die bevorstehende Weltausstellung in Flushing Meadows Park zu reden und darüber, wie erbärmlich die Mets spielen.
    »Wie lang sie war, kannst du dir nicht vorstellen«, sagt er. Dann steht er vor der Stechuhr und stempelt die Karte
ab. Anschließend steckt er sie zurück an ihren Platz im Kartenhalter.
     
     
    William steht am Fließband und hat die Blechkonserven im Auge, die an ihm vorüberziehen. Wenn eine vor ihm landet, untersucht er schnell den Deckel auf Lecks, dreht die Dose um, untersucht die andere Seite und stellt sie zurück, damit das Fließband sie weitertragen kann.
    Das verrichtet er schweigend, eine Dose nach der anderen. Er fragt sich, ob ihn wohl irgendwann jemand aufhalten wird.

46
    Patrick steht in der offenen Tür und betrachtet seine Mom.
    Als er ihr sagte, er würde ihr helfen, hatte er gleichzeitig gehofft, sie würde sagen, nein, Liebling, das war nur Gerede, das war nur das Gerede deiner müden Mutter. Aber sie hat es nicht gesagt. Sie sagte Danke und Ja. Sie sagte, sie sei am Ende. Dann ging er die Pillen holen, die er auf dem Couchtisch gelassen hatte – in der Hoffnung, sie nicht zu brauchen -, und er fand sie an der Stelle, wo er sie liegen gelassen hatte, direkt neben dem Musterungsbefehl.
    Er nahm ihn zur Hand und las ihn (nochmal); er setzte sich auf die Couch und dachte darüber nach (erneut). Er dachte, seine Mutter habe ja Recht: Er hat sie als Ausrede benutzt – aber schon bald würde sie nicht mehr sein, und er müsste sich tatsächlich der Welt stellen.
    Das denkt er auch jetzt, als er in der Tür steht und seine Mom ansieht: Schon bald wird sie nicht mehr da sein, und dann steht er allein in der Welt, ohne alle Ausreden.
    Er soll sich in drei Stunden zur Musterung melden, und wenn seine Mutter nicht mehr ist, muss er wirklich gehen. Das oder Gefängnis. Wenngleich die Vorstellung von Krieg furchteinflößend ist – Waffen und Schlamm und Blut und Granaten und Schrapnells und knatternde Hubschrauber überm Kopf und Dschungelgeruch und Wundbrand und abgefackelte
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