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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt
Autoren: Ryan David Jahn
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Wagen Schlagseite nach rechts. Anfangs kann sie nicht sehen, warum oder ob es überhaupt so ist. Vielleicht handelt es sich nur um eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch das Spiel von Licht und Schatten.
    Sie muss erst die halbe Entfernung bis zu ihrem Wagen zurücklegen, bevor sie erkennt, dass er tatsächlich schräg liegt. Dass ihre verflixte Karre einen Plattfuß hat.

    »So ein Mist«, sagt sie, stampft zornig mit dem Fuß auf den Asphalt und spürt prompt den Schlag bis hinauf ins Knie.
    Sie hastet zum Wagen, direkt zum Kofferraum. Sie schiebt den Autoschlüssel ins zerkratzte Schlüsselloch, dreht ihn nach links, falsch, dann nach rechts, hört, wie sich der Zylinder bewegt, und stößt den Deckel nach oben.
    Im Innern kann sie nichts erkennen.
    Sie tastet nach der Taschenlampe, die sie links in einer Ecke des Kofferraums aufbewahrt. Ihre Hand sucht eine Weile im Dunkeln, bevor die Finger schließlich eine kalte glatte Oberfläche spüren. Sie greift zu und knipst die Lampe an. Sie leuchtet nur schwach und gelblich, aber sie leuchtet. Jetzt, da sie zu sehen sind, greift Kat nach dem Reserverad und dem Wagenheber. Dabei lächelt sie.
    Kat ist schon immer ein selbstbewusster Mensch gewesen, hat sich seit jeher auch mit Distanz betrachtet, und jetzt sieht sie sich, keine eins sechzig, gerade mal fünfzig Kilo, in einem blauen Wollkleid mit einem kurzen weißen Mantel darüber, wie sie ein Reserverad schleppt, das fast so groß ist wie sie selbst, und dazu einen schweren Wagenheber – sie musste wirken wie ein Nilpferd im Ballettröckchen. Bei dem Gedanken kräuselt ein Lächeln ihre Lippen. Doch als ihr einfällt, welche Arbeit ihr bevorsteht, ist es auch schon wieder erloschen.
    Gleich darauf sitzt Kat in der Hocke, kurbelt ihren Wagen hoch, damit sie das verflixte Rad wechseln kann, sieht zu, wie sich der Reifen scheinbar immer weiter ausdehnt, während das Rad fest auf dem Boden bleibt – doch dann endlich hebt sich das Rad, aber die Unterseite des Reifens bleibt platt. Er müsste sich doch eigentlich mit Luft füllen und sich wieder ausdehnen, da kein Gewicht mehr auf ihm lastet. Aber er tut es nicht.

    Und dann – hinter ihr ein Geräusch.
    Sie hält inne, bewegt sich nicht und hofft, dass es nichts war, dass sich das Geräusch nicht wiederholt. Aber es wiederholt sich, und sie dreht den Kopf, um über die Schulter zu schauen, voller Angst vor dem, was sie vielleicht zu sehen bekommt. Aber hinsehen muss sie trotzdem. Kat ist eine von denen, die sich stets die Hände vor die Augen halten, wenn sich auf der Leinwand im Drive-in-Kino die grässlichsten Dinge abspielen, aber trotzdem zwischen den gespreizten Fingern einen kurzen Blick riskieren.
    Zeitungsseiten flattern über den Asphalt, tragen die Nachrichten von gestern fort.
    »Nur der Wind, Dummchen«, sagt sie. Nur der Wind.
    Sie wendet sich wieder dem Wagen und ihrer Arbeit zu.
     
     
    Kat verstaut den platten Reifen und den rautenförmigen Wagenheber achtlos im Kofferraum und schlägt den Deckel zu.
    Ein Nagel hatte für den Schaden gesorgt. Erst als sie das Rad ganz abmontiert hatte, fiel Kat der rostige Nagelkopf auf, der an der Innenseite aus der Reifendecke ragte. Sie erinnert sich undeutlich daran, auf dem Weg zur Arbeit an einer Baustelle vorbeigefahren zu sein, wo Männer mit braungebrannten Armen ein halb niedergebranntes Reihenhaus instand setzten und zersplitterte Holzbohlen, aus denen blanke Nägel ragten, auf einen Lastwagen luden.
    Ihre Hände sind schwarz von Dreck und Bremsstaub, und sie mag sich nicht anfassen, weil sie Angst hat, ihr hellblaues Kleid schmutzig zu machen oder ihren weißen Mantel. Noch schmutziger. Denn als sie den Reifen zum Kofferraum trägt, ist ihr Kleid bereits fleckig.

    Dämlicher Mistplattfuß.
    Sie möchte jetzt nur noch nach Hause, aus den Kleidern schlüpfen und ein warmes Bad nehmen, sich waschen, bis sie ganz sauber ist, und dann ins Bett schlüpfen, unter ihre nachtkühle Bettdecke, wo sie vielleicht bis Mittag liegen und schlafen kann, vielleicht sogar bis eins, und wenn sie Glück hat, träumt sie süße Träume von dem Moment an, wenn ihr Kopf aufs Kissen fällt, bis sie geweckt wird von der Mittagssonne, die durchs Fenster scheint.
    Doch zuerst muss sie nach Hause kommen.
    Sie öffnet die Autotür und lässt sich auf den Fahrersitz fallen, steckt den Schlüssel ins Zündschloss und dreht ihn in Uhrzeigerrichtung. Der Wagen räuspert sich wie ein Raucher, der drei Packungen am Tag pafft. Der Motor
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