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Cotton Reloaded - Folge 1: Der Beginn

Cotton Reloaded - Folge 1: Der Beginn

Titel: Cotton Reloaded - Folge 1: Der Beginn
Autoren: Mario Giordano
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    Du rennst und rennst und rennst.
    Daran vor allem erinnerst du dich immer noch jede Nacht. Die ganze südliche Lexington rauf, und dann zack rechts rein in die 26. Straße, wo es plötzlich schattig wird zwischen den eng stehenden Backsteinhäusern mit den Feuerleitern.
    Du erinnerst dich an die paar Touristen, die die Feuerleitern fotografieren, als gäbe es die nirgendwo sonst. Was ist an diesen Feuerleitern so toll?, schießt es dir durch den Kopf.
    Dann hast du sie schon wieder vergessen, die Leitern und die Touristen, denn du rennst und hast keinen Blick für irgendwas sonst. Erinnern wirst du dich erst viel später, dann aber an jede verdammte Einzelheit dieses Morgens, und das jede Nacht.
    Im Augenblick nimmst du kaum etwas um dich herum wahr. Die Bilder huschen nur so durch dich hindurch, hinterlassen kaum mehr als eine Kratzspur in deinem Gedächtnis, ebenso wenig wie die Coffeeshops, die schmuddeligen Immobilienagenturen und die verwanzten Delis, die verrammelten Läden für Medizintechnik, die Typen von der Müllabfuhr, die dir irgendwas hinterhergrölen und überhaupt all die Leute, die du im Zickzack umkurvst oder anrempelst. Ist dir im Augenblick so was von egal.
    Du rennst einfach weiter. Deine Beine und die Lunge brennen, aber du hast immer noch genug Kraft für zwei, drei Blocks oder mehr. Wenn es sein muss, rennst du diesem schwarzen Drecksack bis nach Timbuktu hinterher, also viel weiter als bis nach Grinnell, Iowa, oder sogar New York City.
    Du wirst diesen Mistkerl da vorne mit deiner Geldbörse nicht entwischen lassen. Und wenn du ihn hast, wird deine Kraft immer noch reichen, um die Scheiße aus ihm rauszuprügeln.
    Vierhundert. Drei. Und. Fünfzig. Dollar. Sind da drin, dein ganzes Gespartes. Du wolltest dir coole Sachen dafür kaufen, die es original nur in New York City gibt: neues Board, neue Sneakers und ein Geschenk für Meg, irgendwas Nettes, vielleicht einen Ring, wenn’s reicht, mal sehen.
    Aber daraus wird wohl nix, denn jetzt hat der Drecksack da vorne dein Geld, und er ist verdammt schnell auf den Beinen. Er wird dich abhängen, wenn du ihn nicht bald kriegst. Also, was jetzt? Aufgeben und sich nachher von Dad sein Das-musste-ja-so-kommen-Gesicht abholen?
    Niemals.
    Du warst öfters mit Dad jagen, und es gefällt dir, bis auf das Schießen. Du kannst zwar mit der Waffe umgehen, bist sogar richtig gut mit der alten Browning, aber dein Problem ist, dass du dich immer in die Lage des Wildes hineinversetzt. Immer musst du dir vorstellen, wie es ist, gejagt zu werden. Deshalb hast du inzwischen ein Gefühl dafür, wann der Punkt erreicht ist, an dem die Flucht zur Panik wird. Und bei dem Drecksack keine zwanzig Meter vor dir ist es definitiv so weit. Der hat inzwischen kein klares Fluchtziel mehr, den treibt nur noch die nackte Angst. Du erkennst es daran, wie er sich immer wieder hastig nach dir umdreht. Es ist nur noch eine Frage der Kondition.
    Also rennst du weiter. An der 2nd Avenue biegt der Drecksack links ab, dann gleich wieder rechts in die 26. und geradeaus zwei Blocks bis zum Franklin D. Roosevelt Drive. Vierspurige Straße. Der morgendliche Stoßverkehr wälzt sich wie glitzerndes Treibgut am Ufer des East River entlang und presst Autos und Menschen in die Stadt.
    Und was macht dieser Hurensohn, der dein Geld hat? Rennt da einfach rüber. Jede Nacht erinnerst du dich, wie er zwischen den Wagen hindurch rüberflitzt, als wäre es nichts, und wie er über die Betontrennung in der Mitte hechtet und dann weiter Richtung Fluss sprintet. Und du hinterher, denn aufgeben wirst du auf jetzt keinen Fall. Nicht so kurz vor dem Ziel.
    Seltsam, aber du erinnerst dich immer noch an jede Einzelheit dieses Morgens. Es ist ein schöner, milder Spätsommertag, der noch einmal Hitze verspricht. Die Luft ist rein und klar. Du hast dich noch gewundert, wie sauber die Luft in New York ist, diesem Moloch. Das hattest du dir alles anders vorgestellt. Aber es ist ja auch dein erstes Mal in der Stadt, die niemals schläft.
    New York City, Mann! Vor zwei Tagen bist du mit deinen Eltern aus Grinnell, Iowa, hierhergekommen, um deine tolle Schwester zu besuchen. Du bist ein Landei, ein Redneck aus einer Kleinstadt im Mittelwesten, aus dem platten, mit endlosen Maisfeldern glasierten Nirgendwo, das noch vor hundertachtzig Jahren wilde Prärie war. Savanne, hohes Gras, Tausende von Büffeln, unverfälschte Natur, Jagdgebiet der Iowa und Sioux.
    Und heute nichts als Mais für Coca-Cola.
    Du gehst noch
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