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Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Titel: Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
Autoren: Beauman Ned
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leid, dass die Menschen hier Schuldgefühle haben müssen, wenn sie eine beschützte Kindheit hatten. In England würden sich nicht einmal die Sozialisten unter meinen Freunden diese Mühe machen.«
    »Und auch diese sogenannte Depression macht uns nichts aus«, sagte Achleitner. »Sechs Millionen Arbeitslose, das kommt einem nicht so viel vor, wo doch keiner von uns jemals auf eine richtige Arbeit aus war.«
    »Trotzdem, wo soll man mit sechs Millionen überflüssigen Menschen hin?«, sagte Rackenham.
    »Vielleicht können sie alle hauptberufliche Bühnenbildner werden«, sagte Achleitner.
    »Wir sollten lieber anhalten und Wein besorgen«, sagte Loeser. »Dort, wo die Party ist, wird nichts mehr offen sein.«
    Als Loeser mit vier billigen Flaschen zurückkam, überredeten sie den Fahrer, weiter zu warten, damit sie etwas von Rackenhams Koks schnupfen konnten. Rackenham klappte brav seine Kamera auf und holte ein kleines, in Papier gewickeltes Päckchen heraus, das aussah wie das Lunchpaket einer Maus.
    »Da bewahren Sie Ihr Koks auf?«, fragte Loeser.
    »Ja.«
    »Gehört da nicht der Film hin?«
    »Ja.«
    »Wie kann man dann damit Fotos machen?«
    »Seien Sie nicht so pedantisch. Die Fotografie als zeremonielle Geste ist ein angenehmer Weg, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie sich amüsieren, aber die technischen Details sind öde. Ich habe dieses Gerät zu einem Spottpreis bekommen, weil es auch mit Film nicht funktionieren würde. Darf ich übrigens darauf hinweisen, dass der Taxameter läuft?« Es gab keine ebene Fläche in der Nähe, also schnupften sie das Koks von der Handkante und leckten die Überreste auf. Eine der Glanznummern des Berliner Soziallebens war es, dieses peinliche An-sich-selbst-Nuckeln in eine elegante Geste zu verwandeln; Loeser wusste, dass er eigentlich aussah wie ein Schuljunge, der sich den Cunnilingus beibringen wollte. Hinterher dann immer dieser verstohlene, verschreckte Blick, als hätte man gerade erst gemerkt, dass man nicht allein im Zimmer war.
    Das Taxi setzte seine Fahrt fort. Nun, da sie tiefer ins Innere Puppenbergs vorgedrungen waren, sahen die Ziegel der meisten Häuser, an denen sie vorüberkamen, verrußt aus, die Fenster schief. »Was immer ich gerade über die Drogen heutzutage gesagt habe, dieses Zeug ist nicht schlecht«, sagte Loeser. Und dann hielten sie vor der Korsettfabrik.
    Wer die Party gab, hatten alle längst vergessen. Drinnen standen noch immer Nähmaschinen in langen schwarzen Reihen bereit wie Kühe zum Melken, aber der Strom war abgeschaltet, weshalb die ganze Fabrik von Kerzen erleuchtet war, und ganz hinten spielte eine Jazzkapelle (kaukasisch, hutlos) auf einer Bühne aus umgedrehten Holzkisten – was Loeser vor vier oder fünf Jahren alles ungemein fantasievoll und erfrischend gefunden hätte.
    Die ersten vertrauten Gesichter, die sie sahen, waren die von Dieter Ziesel und Hans Heijenhoort – kein vielversprechender Anfang. Die beiden waren Physiker, in der Forschung tätig, und sie klammerten sich mithilfe einiger alter Universitätsbeziehungen, die welkten, aber nicht ganz abgestorben waren, an den äußersten struppigen Felsenrand von Loesers Kreisen. Sie waren zwei Langweiler von olympischem Format, aber nach einem Besäufnis in seinem dritten Studienjahr hatte Loeser Dieter Ziesel trotzdem ins Herz geschlossen.
    Er war in der Unikneipe gewesen, und irgendetwas war gerade passiert – heute konnte er sich nicht mehr daran erinnern, aber wahrscheinlich hatte er einen Korb bekommen –, das ihn in dieselbe Art Trübsinn hatte zerfließen lassen, die sich eines Tages in seiner Beziehung mit Marlene Schibelsky indirekt als so verhängnisvoll erweisen sollte. »Ich weiß sehr genau, dass ich besser bin als alle anderen hier, außer Drabsfarben vielleicht«, hatte er zu Achleitner gesagt. »Aber was, wenn es darauf gar nicht ankommt? Na ja, den Mädchen scheint es egal zu sein, warum dann nicht auch dem Rest der Welt? Wenn ich irgendetwas wirklich Wichtiges erreiche, wird es mir nichts ausmachen, unglücklich zu sein, und wenn ich am Ende richtig glücklich werden sollte, könnte ich es wahrscheinlich ertragen, nichts Wichtiges zu erreichen. Aber was, wenn nichts davon eintritt? Mein Leben lang habe ich immer alle verachtet, die sich mit dem Scheitern abfinden konnten, aber was, wenn ich es selbst tun muss? Nicht jeder kann es bis ganz nach oben schaffen. Unten muss es auch Menschen geben. Das könnte mir passieren. Wenn ich mir nicht vorher
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