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Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Titel: Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
Autoren: Beauman Ned
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lieben, wenn man nicht auch irgendetwas hasste. Im Grunde konnte man wahrscheinlich nichts wahrhaft lieben, wenn man nicht fast alles andere hasste. Was, fragte er sich, würde es tatsächlich bedeuten, sich mit Heijenhoort »anzufreunden«, wenn man wusste, dass Heijenhoort, die Magermilch zu Ziesels ranziger Butter, den Menschen seine schale Zuneigung so wahllos zuteilwerden ließ? Aber selbst Achleitner sagte, Heijenhoort sei ihm nicht unangenehm, also behielt Loeser seine Verachtung für sich.
    Loeser stellte dem seltsamen Messiaspaar Rackenham vor und fragte sie dann, wie die Party sei. »Nicht so toll«, erwiderte Ziesel. »Es gibt keinen Korkenzieher.«
    »Was soll das heißen?«, fragte Achleitner.
    »Kein Korkenzieher«, sagte Ziesel. »Man kriegt den Wein nicht auf. Und es gibt kilometerweit keinen Laden.«
    »Hier müssen zweihundert Menschen sein. Wie kann es da keinen Korkenzieher geben?«
    »Hildkraut hat ein Taschenmesser mit Korkenzieher, aber er verleiht es nur gegen Geld, und keiner will zahlen«, sagte Heijenhoort.
    »Es hat schon Verletzte gegeben.« Offenbar hatte Brogmann versucht, den Hals seiner Flasche an der Wand abzuschlagen, und sich dann beim Versuch, aus den Resten zu trinken, die Lippe aufgeschnitten, während Tetzner zu Hannah Czenowitz gesagt hatte, bei ihrer Lebensgeschichte müsste sie problemlos einen Korken aus der Flasche lutschen können, wofür sie ihm ein blaues Auge verpasst hatte.
    »Das ist doch lächerlich«, sagte Achleitner.
    »Ja, sehr enttäuschend, aber wenigstens soll Brecht später noch kommen«, sagte Ziesel.
    »Wenn es nicht mal Wein gibt, müssen wir Gott danken, dass wir Koks aufgetrieben haben«, sagte Loeser. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter, und er drehte sich um.
    Achleitner hatte recht gehabt. Adele Hitler hatte sich verändert.
    Das Erste, was Loeser auffiel, war ihre Frisur. Sie war hoffnungslos unmodern. Während alle anderen seiner weiblichen Bekannten einen Bubikopf trugen, der aussah wie ein geometrisches Diagramm seiner selbst, hinten oft so kurz geschnippelt, dass sie morgens Stoppeln im Nacken hatten, trug die blasse Adele einen Schwarm schwarzer Stare auf dem Kopf, einen Tintentropfen, der in einem Glas Wasser explodierte, eine Lockenlawine, die sich kaum Haarschnitt nennen ließ, denn jede Schere, in deren Nähe sie kam, würde sie einfach unter sich begraben.
    Und während im Jahr 1931 die meisten Kittel ganz wie der spätantike griechische Kaufmann und Geodät Kosmas Indikopleustes der Beweislage zum Trotz für die plane Ebene plädierten, trug Adele ein blaues Kleid, das ihr Verse um Büste und Hüften wand, obwohl ihre Figur im Grunde recht mädchenhaft war – das Muster aus Wolken, Wolkenkratzern und Doppeldeckern, mit dem das Gewand bedruckt war, schien sein einziges, geradezu herzig tollpatschiges Zugeständnis an den Zeitgeist zu sein.
    Vor allem aber ihre Augen! Sie trug keine dicke Schutzbrille aus Lidschatten wie die anderen Mädchen, nur ein wenig Kajal und ein wenig Mascara, die aber beide eher überflüssig waren, denn kein künstliches Pigment hätte die Wirkung dessen steigern können, was nicht nur die größten und leuchtendsten und sanftesten Augen waren, die Loeser je gesehen hatte, sondern auch Augen von erstaunlich barockem Glanz, mit ein paar Spritzern Gold in der Iris um die Pupillen herum wie die Korona rund um eine Sonnenfinsternis, umgeben von einem grün und blau gefleckten Streifen mit einem grauen Rand, so scharf wie mit dem Bleistift gezogen, und jenseits davon erstreckte sich ein feuchtes Weiß ohne die kleinste Spur von roten Äderchen, das in seinem innersten Winkel schützend einen Tränenkanal umfing, so vollendet wie ein winziger rosa Saphir. Es waren Augen, die den verängstigten Jungen einer seltenen javanesischen Lori-Art hätten gehören sollen.
    Loeser konnte kaum glauben, dass sich unter den vielen Lagen Babyspeck eine so tiefe Schönheit verborgen hatte. Er konnte kaum glauben, dass ihm seine Arbeit Stunde für Stunde so öde vorgekommen war, dass er es einmal als wirkliches Pech empfunden hatte, dazu eingestellt worden zu sein, ausgerechnet diese Schülerin zu unterrichten und nicht eine von denen, die man manchmal in der Straßenbahn sah und die so viel mehr … nun, damit hielt man sich besser nicht auf. Er konnte kaum glauben, wie undankbar er gewesen war, wo er doch direkt vor seinen Augen diese Offenbarung gehabt hatte, seine lernbegierige Larve, die ihm an den Lippen hing. Und er konnte
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