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Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort

Titel: Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
Autoren: Beauman Ned
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die Milz aus dem Körper nagen sollte.«
    »Du wirst nie ganz unten landen«, hatte Achleitner gesagt.
    »Wie kannst du das wissen?«
    »Wegen Dieter Ziesel.«
    »Wer ist das denn?«
    Achleitner hatte auf ihn gezeigt, und Loesers Blick war auf einen Kommilitonen mit dem klassischen attraktiven Muskelbau einer in Geburtstagstortenguss getauchten Schaufensterpuppe gefallen, der allein vor einem Bier saß. Ziesel war in ihrem Semester, erklärte Achleitner, aber fast niemand kannte ihn. Er war noch Jungfrau, weil er nicht den Nerv gehabt hatte, sich vor einer Prostituierten auszuziehen, und hatte noch nicht einmal ein Mädchen geküsst. Nach zwei alkoholischen Getränken kotzte er sich aufs Hemd. Wenn er der Straßenbahn nachlief, was oft geschah, weil er immer zu spät dran war, schämte er sich schrecklich für seinen Schwabbelbauch. Jedes Wochenende nahm er den Zug zurück zu seinen Eltern nach Lemberg, wo er den ganzen Nachmittag lang weinend seiner Mutter an der Schürze hing, die ihn tröstete wie ein Baby. Abends zeichnete er Karten imaginärer Planeten. »Und dann spielt er auch noch Tuba! Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein? Da würdest du doch denken, er ist ein mathematisches Genie, oder? Das ist diese Sorte doch meistens. Ist er aber nicht. Er schneidet in den Prüfungen ganz gut ab, weil er so lange ungewaschen in der Bibliothek herumsitzt, aber seine Professoren sagen alle, dass ihm das Gefühl für sein Fach völlig abgeht.«
    »Woher weißt du das alles?«
    »Er hat irgendwo sein Tagebuch liegen lassen, und jemand hat es gefunden. Was ich sagen will, ist: So mies du dein eigenes Leben auch finden magst, das von Dieter Ziesel ist noch mieser. Du wirst nie ganz unten landen, da ist immer schon Dieter Ziesel. Mathematisch ausgedrückt: Er ist das n-1 .«
    »Das ist die schönste Aufmunterung, die ich je gehört habe«, hatte Loeser gesagt.
    »Ja. Dieter Ziesel ist für uns alle ein Segen. Oft denke ich, auf gewisse Weise ist er unser Jesus.«
    In den folgenden Jahren erbaute Loeser sich Tausende Male am Gedanken an Dieter Ziesel. Einmal wollte er sogar eine Miniatur von Ziesel in Auftrag geben, für seine Brieftasche. Als seinem Erlöser ein renommiertes Forschungsstipendium zugesprochen wurde, war das ein kleiner Rückschlag, aber offenbar hatte ein bestimmter Professor Ziesels Sache vor dem Auswahlgremium gefördert, und dieser Professor hatte zweifellos Mitleid mit dem Knaben, weil er wusste, dass er in jeder anderen Welt verloren wäre.
    Was Loeser besonders erheiterte, war, dass Ziesel seine Rolle noch immer nicht annehmen wollte. Wenn er von einer Party hörte, die Bekannte gaben, tauchte er jedes Mal auf, obwohl ganz klar gewesen sein musste, dass niemand ihn dort haben wollte. Kürzlich hatte er sich einen Anzug im hässlichen amerikanischen Stil gekauft, wie er bei den Normalverbrauchern gerade in Mode war – ultrabreite Schultern, enge Hosenbeine, Ledergürtel –, als würden dann plötzlich alle anders von ihm denken und seine feschen Klamotten bewundern. Und, was das Absurdeste war, er hörte nicht auf, seinen Freund Heijenhoort zu quälen. An der Universität waren die beiden gute Freunde gewesen, aber irgendwann musste Ziesel aufgefallen sein, dass sein dürrer Kommilitone der Einzige war, den er risikofrei piesacken konnte. Und zwar weil Heijenhoort – auch ein wenig wie Jesus, aber auf weniger nützliche Weise – im Grunde der netteste Mensch der Welt war. Er war nicht wirklich charmant oder lustig, er war einfach nur nett. Er verfügte über unerschöpfliche Reserven an Freundlichkeit, Optimismus, Zurückhaltung, Großzügigkeit und Takt. Wenn eine Gang von Hafenarbeitern ihn auf der Straße zu Matsch zertrampelt hätte, wäre noch sein Todesröcheln höflich gewesen. Von Heijenhoort hatte Ziesel nichts zu befürchten. Also machte er ständig kleine Witze auf Heijenhoorts Kosten, sobald jemand dabei war, der sich vielleicht beeindrucken ließ, wovon er sich einen winzigen Statusgewinn erhoffte, wie ein Provinzbeamter, der einem Minister die Inkompetenz eines Kollegen anzeigt und sich davon eine Beförderung erwartet. Aber in Wahrheit wirkte Ziesel dadurch nur umso mehr wie ein Verlierer, weil kein zurechnungsfähiger Mensch etwas gegen Heijenhoort haben konnte.
    Das heißt, kein zurechnungsfähiger Mensch außer Egon Loeser. Die ganze Zeit so nett sein, dachte Loeser, das ergab einfach keinen Sinn. Es war unmenschlich, unlogisch, schleimig und feige. Man konnte nicht wirklich etwas
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