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Dunkelziffer

Dunkelziffer

Titel: Dunkelziffer
Autoren: Arne Dahl
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Hjelm dachte: Ist Leben Mut oder Feigheit? Dummdreistigkeit oder Vorsicht? Einen wie großen Anteil am Leben sollen die Liebe und das Begehren einnehmen? Wo sind unsere Grenzen?
    »Ich habe Kinder«, sagte er.
    »Deine Kinder sind erwachsen«, sagte Christine und beugte sich zu ihm. »Es lässt sich so einrichten, dass du sie treffen kannst. Und wir werden in Zukunft keine Verbrechen mehr begehen. Wir werden nur die Lebenskraft bejahen. Nicht wahr, Jacob?«
    Der Buchhalter lächelte im Rückspiegel und sagte: »Ich frage mich, ob man sagen kann, dass wir irgendwelche Verbrechen begangen haben. Wir ließen Leif Einblick in unsere Nachforschungen nehmen, das war alles.«
    »Das war alles«, sagte Christine und kam näher. Sie war jetzt nur zwei Zentimeter von Pauls Gesicht entfernt.
    Er fühlte sich von Leben durchströmt.
    »Ja oder nein, Paul?«, sagte sie, und ihr Atem duftete himmlisch. »Ja oder nein? Ich muss jetzt die Antwort wissen.«
    Ein Leben zog durch Paul Hjelm. Es war ein Stoß von Freude und Trauer, Leben und Tod, Begehren und Tristesse, Schmerz und Glück. Es enthielt alles.
    Und er sagte: »Nein.«
    Christines Kuss bewirkte, dass der kleine Einstich der Kanüle im Nacken kaum spürbar war. Mit ihren Lippen auf seinen schlief er ein.
    37
    Lena Lindberg ging durch Stockholm. Sie ging wirklich durch ganz Stockholm. Das war etwas anderes, als durch den dunklen, schrecklichen Wald zu gehen. Sie fühlte sich zu Hause.
    Aber >fühlte< war nicht das richtige Wort. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt besonders viel fühlte. Es war, als ob alles erstarrt wäre.
    Als ob sie den Wald nie verlassen könnte.
    Der Spaziergang hatte im großen Lager der Polizei begonnen, wo Beweismaterial gesammelt wurde, für das es in den verschiedenen Abteilungen keinen Platz gab. Sie ließ sich das Beweismaterial der Ereignisse des gestrigen Abends vorlegen.
    Und dann stand sie vor Rigmondo.
    Das Skelett machte mit seinem eigentümlichen Glied einen seltsamen, tief ergreifenden Eindruck. Sie versuchte zu verstehen, womit Fac ut vivas sich eigentlich befasste. Was sie im Innersten meinten.
    Sie war sich gar nicht sicher, ob sie begriff, worin der entscheidende Unterschied zwischen Lebenskraft und Todeskraft bestand.
    Sie blieb vor Rigmondo stehen, und vielleicht, vielleicht erreichte sie etwas, was einer Einsicht gleichkommen konnte.
    Dann begann der lange Spaziergang.
    Sie dachte an Carl-Olof Strandberg. Sie dachte an die Zelle und was sich dort drinnen abgespielt hatte. Sie dachte daran, was geschehen musste, damit ein so verhärteter Mensch wie Strandberg Selbstmord beging.
    Sie dachte daran, dass sie selbst diese Kraft hatte.
    Diese Macht.
    Richtig und falsch, dachte sie.
    Hätte sie nicht getan, was sie getan hatte, dann wäre Daniel Wiklund nicht von Jorge und Jon verfolgt worden. Dann hätten drei Männer mit Maschinenpistolen freie Hand gegen mehr als dreißig Ordensmitglieder und die ganze verdammte A-Gruppe gehabt. Dann hätte der Tod anders zugeschlagen.
    Die wahre Heldin bin ich, dachte Lena Lindberg.
    Ich habe fünfzig Leben gerettet.
    Und dann dachte sie wieder an die Zelle. Sie dachte an den Preis des Rechtsstaates. Sie dachte an Gerechtigkeit kontra Recht.
    Es gab viel nachzudenken.
    Sie dachte an die Gewalt, die schlimmere Gewalt verhindert hatte. Sie dachte an den Schmerz, der schlimmeren Schmerz verhindert.
    Und sie dachte, dass das alles nur Ausreden waren.
    Sie dachte: Lebenskraft oder Todeskraft?
    Dann dachte sie, dass sie rettungslos verloren war.
    Sie hatte das Tor der Todeskraft einen Spalt geöffnet, und jetzt konnte sie es nicht mehr schließen.
    Sie zitterte, als sie in eine einsame Gasse einbog und vor einer unansehnlichen Tür stehen blieb.
    Eine Silhouette wie ein Fels stand vor der Tür. Lange bevor sie die Gesichtszüge erkannte, wusste sie, wer es war. In ihrem Inneren geschah etwas. Sie fragte sich, was es war. Geir wandte sich zu ihr, und obwohl die vollkommen helle Nacht dunkler war, als sie je eine Nacht empfunden hatte, war sein forschender Blick sehr deutlich.
    Er sagte: »Du musst darauf vertrauen, dass ich weiß, was gut für dich ist.«
    Sie nickte, und er klopfte an.
    Ein kräftiger Mann mit Schnurrbart öffnete die Tür einen Spalt weit.
    Geir sagte: »Dunkelziffer.«
    Der Kräftige nickte, öffnete die Tür und sagte: »Willkommen.«
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